Temporeich: Juliette Khalil (Susan), Jakob Semotan (Jon) und Oliver Liebl (Michael, v. li.).
Temporeich: Juliette Khalil (Susan), Jakob Semotan (Jon) und Oliver Liebl (Michael, v. li.).
Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Schon vor Beginn dieser Premiere ist alles etwas anders. Birgit Sarata, Harald Serafin, Dagmar Koller und Co? Werden in der Wiener Volksoper diesmal nicht gesichtet. Stattdessen Vorfreude in Form von hellstimmigem Geplapper, fast wie bei einer Schulaufführung. "Es werden Menschen kommen, die noch nie bei uns waren", prophezeite Hauptdarsteller Jakob Semotan vorab. Stimmt.

Tick, Tick… Boom! war ursprünglich ein "rock monologue" des 1960 geborenen US-amerikanischen Komponisten Jonathan Larson, der 1996 den Broadway-Triumph seines Musicals Rent gerade nicht mehr ­erlebte. Nach seinem unerwarteten Tod wurde der Musicalmonolog zu einem Dreipersonenstück umgearbeitet und 2021 von Netflix nach dem Motto "Klotzen, nicht kleckern" verfilmt. Regie führte der neue Broadway-Fixstern und Hamilton-Macher Lin-Manuel Miranda, Hauptdarsteller war Andrew "Spiderman" Garfield.

Und so sind die roten Plüschfauteuils der Volksoper am Samstagabend teils mit einer jungen Streaming-Community besetzt, und die feiert jede der 15 Nummern enthusiastisch ab.

Traum von der Badewanne

Gespielt werden die rockaffinen Songs von einer vierköpfigen Band (Leitung: Christian Frank), die auf zwei mit Neonröhren umrahmten Podesten platziert ist. Motor und Energiequelle ist Mario Stübler, bekannt aus Willkommen Österreich und vom Magazin Wiener "der schärfste Schlagzeuger der Repu­blik" genannt.

Sexgottqualitäten hat Jakob Semotan eher weniger, das gehört hier aber auch nicht zu seinem Rollenprofil. Das vielseitig einsetzbare ­Ensemblemitglied der Volksoper gibt den zerknautschten, kellnernden Musicalkomponisten Jon (das Alter Ego von Jonathan Larson), der kurz vor seinem 30. Geburtstag die Karriereuhr laut ticken hört. Wird er Produzenten für sein neues Musical Superbia finden? Wird er jemals eine Wohnung mit Badewanne haben? Und wann ruft Stephen Sondheim endlich an?

Semotan macht seine Sache sehr gut, der Wiener tigert aufgedreht neben, um und auf einem multifunktionalen Würstelstand herum (Bühne: Agnes Hasun), unterstützt und bemitleidet von Susan (Juliette Khalil) und Michael (Oliver Liebl).

Powerkantilenen

Wenn auch bei den Balladen nicht jeder zarte Ton sitzt: Die Powerkantilenen hat Semotan fast genauso gut drauf wie Liebl (der noch einen Tick besser). Khalil neigt stimmlich zu einer leichten Grellheit, darstellerisch überzeugt sie als Karessa – also quasi als ihre eigene Nebenbuhlerin – mit wohltuender Natürlichkeit.

Die Inszenierung von Frédéric Buhr macht die beschränkten Mittel, die auf der Vorbühne zur Verfügung stehen, mit Tempo und Spielwitz einigermaßen vergessen.

Mit Tick, Tick… Boom! hat die Volksoper eine Produktion im Portfolio, die Schließtage verhindert, wenn Orchester und Chor einmal auswärts spielen (wie am Premierenabend das Verdi-Requiem im Konzerthaus).

Und Lotte de Beer, der curly Frohsinnsbotschafterin, gelingt damit ein weiterer Schritt im Umbauprozess der Volksoper von der Seniorenresidenz zum Mehrgenerationenhaus. (Stefan Ender, 29.10.2023)