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In extrem bunten Kostümen, an den Stil von Drag-Queens erinnernd entsprechend grell und schillernd

Mit „verkehrten“ Geschlechtern arbeitet Olivia Hyunsin Kim mit Mengqi Zhang als „Calaf“ und Luvuyo Mbundu als „PING“ gegen das Patriarchat. © Clemens Heidrich

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Olivia Hyunsin Kims Musiktheater „Turning Turandot“ in Hannover: Nieder mit dem Patriarchat – einfach nieder

Vorspann / Teaser

Giacomo Puccinis „Turandot“ ist ein Fragment geblieben. Es ist überliefert, dass Arturo Toscanini bei der Uraufführung 1926 in Mailand den Taktstock an der Stelle niederlegte, an der der Tod Puccinis das Komponieren beendete. Heute führt man meist die von Franco Alfano vollendete Fassung auf, bei der man durchaus infrage stellen darf, ob Puccini, der sich allein mit der Geschichte Turandots auf ganz neuen Wegen befand, damit einverstanden gewesen wäre. Jetzt fand an der Staatsoper Hannover eine experimentelle Aufführung statt, die zweierlei in Angriff nahm: einmal die Nichtvollendung des pathetischen und schwer erträglichen Schlusses – denn Puccini starb nicht nur, ihm ist auch zum finalen Liebeskuss nichts mehr eingefallen – und zum anderen die Reflexion über die Frauenschicksale in der Oper: von Monteverdi bis Henze, von Händel bis Sciarrino sind sie Projektionen und auch Opfer von Männern (mit der einzigen Ausnahme die Frauen von Mozart). Leidende, verzweifelte, rachsüchtige und natürlich noch und nöcher tote Frauen sind mit der schönsten Musik versehen und machen sie unsterblich. Die eiserne und eisige Prinzessin Turandot, die wegen der Jahrhunderte zurückliegenden Vergewaltigung einer Urahnin eigentlich alle Männer umbringen will und von der „Liebe“ angeblich besiegt wird, ist hierfür ein besonders krasses Beispiel.

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In diesem Sinne kommt der Inszenierung „Turning Turandot“ von Olivia Hyunsin Kim der Charakter einer Uraufführung zu: Ihre Arbeit ist ein Auftragswerk der Staatsoper Hannover. Die 1987 in Siegen geborene südkoreanisch-deutsche Künstlerin hat Tanz und Performance studiert, aber auch Theater- und Politikwissenschaften. Ihr vielfach preisgekröntes Werk zeichnet sich durch das unglaublich kreative Ineinander von Tanz/Performance und gesellschaftskritischer Reflexion aus, in der sie Schwerpunkte auf Feminismus, Postkolonialismus und Rassimus legt. Preisgekrönt ist ihr auf dem Musical „Miss Saigon“ beruhendes „Miss Yellow and me“. Nun war in Hannover Puccinis Turandot ihr „Opfer“, die Aufführung wurde ein Standing-Ovations-Erfolg.

Nun ist es ja nicht so, dass schon längst in jeder einigermaßen ambitionierten Inszeneriung das traditionelle Frauenbild in der Oper kritisch reflektiert wird, aber Kim langt noch einmal ganz anders und neu zu. Auf der Bühne nur ein Podest, mit Schnittblumen umgeben und im Hintergrund ein oder drei drehbare Quadrate (Eva G. Alonso und sehr schöne Videos von Jones Seitz). Dazu ein überdimensional fantastisches Kostüm-Festival, dessen Einfallsreichtum grenzenlos scheint (Mascha Mihoa Bischoff) und ein nicht-realistischer Bewegungsapparat aus einer Mischung aus bewegungslosen Marionetten und stilisierter Tanzchoreographie, manchmal dann auch aus echten menschlichen Emotionen. Es ist wunderbar, wie es Kim gelingt, in diesem Ganzen auch noch eine gute Portion Humor unterzubringen: „Wo Turandot regiert, ist immer was los“, denn an sich ist ja die Story keineswegs zum Lachen. Es bleibts Kims Geheimnis, wie es ihr gelungen ist, genau mit diesem Ambiente immer mehr Betroffenheit beim Zuschauer zu erreichen.

Dazu hilft natürlich auch die Verkehrung der Geschlechter, beziehungsweise der Gesangsfächer: Der groß gewachsene Bariton Seungwoo Sun (Korea) ist Turandot, Sopranistin Mengqi Zhang (China) als Calaf mit einem zutiefst ergreifenden „Nessun dorma“ und „Weine nicht, Liu“, der strahlende Tenor Pawel Brozek (Polen) als Liu (mit der vielleicht innigsten Musik, die Puccini geschrieben hat) und Carmen Fugiss (Deutschland) als Calafs Vater Timur. Sie alle sind tartarische Exilanten, also im Geschehen „People of Colour“. Diese Gemengelage führt am Höhepunkt der Oper, als Calaf Turandot seinen besitzergreifenden Kuss aufdrücken will, zu einem Zusammenbruch Calafs: „Aufhören, aufhören!“ und „Was tun wir hier eigentlich?“ schreit er und leitet damit eine Reflexion der Regisseurin Olivia Hyunsin Kim über Frauenbilder in der Oper ein, die ebenso ernsthaft wie auch komisch ist, die nach Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Arbeitstrealität an der Oper und vielem anderen fragt.

Das Fazit: „Nieder mit dem Patriarchat – einfach nieder!“ Vielleicht hätte Puccini das gefallen? Das gonglastige Musikarrangement von Jacopo Salvatori beruht stark auf Puccini, man könnte es als Übermalung bezeichnen, die der junge Dirigent Richard Schwennicke mit den Streichern des Niedersächsischen Staatsorchesters (und für alle anderen Instrumente mit einem Keyboard) einfühlsam umsetzte (in solch einer Produktion wäre es auch gut gewesen, die MusikerInnen hätten sich verbeugen dürfen!). Kim gebührt uneingeschränktes Lob für ihre Doppelbotschaft: Das hier ist gesellschaftlich verdammt ernst, aber man darf auch mal darüber lachen. In diesem Sinne möchte man das Stück gleich noch einmal sehen.

Aufführungen: 9., 12., 18. und 29.11. und 1., 7. und 12.12.

Hinweis:

In einer früheren Fassung des Artikels haben wir die Texte der Schlussreflexion fälschlicherweise der Dramaturgin zugeschrieben. Von Katharina Schellenberg stammen zwar die begleitenden Texte zur Aufführung – der Sprechtext und auch der Liedtext am Ende der Inszenierung wurden aber von Olivia Hyunsin Kim verfasst. Wir bitten um Entschuldigung und haben die Passage entsprechend geändert.

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