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NÜRNBERG/Staatstheater: LUCIA DI LAMMERMOOR. „Luca passt sich nicht an“

13.11.2023 | Oper international

NÜRNBERG: LUCIA DI LAMMERMOOR von Gaetano Donizetti wird zu LUCA DI LAMMERMOOR
11.11. 2023 (Werner Häußner)

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Copyright:  Ludwig Olah

Luca passt sich nicht an. Die grün-gelben Karos seines Pullovers stehen quer zu den schwarz-weißen Hahnentrittmustern, die seine Familie bevorzugt. Sein Zimmer ist ein heller Lichtblick in der weiten Schwärze des Raums. Da funkelt eine Lichtgirlande, und wenn sein Geliebter Edgardo die Vorhänge aufreißt, leuchtet eine Regenbogenlampe im Fenster.

Eigentlich heißt die Oper, die hier gespielt wird, „Lucia di Lammermoor“. Aber Regisseurin Ilaria Lanzino macht aus Gaetano Donizettis von morbid verzweifeltem Wahnsinn durchtränktem Werk über eine von Familienfehde und Machtpolitik zerschmetterte Liebe eine queere Tragödie im 21. Jahrhundert. Aus Lucia wird der schmächtige junge Mann Luca. Seine schwule Zuneigung zu Edgardo wird entdeckt. Bruder Enrico, vom Typ her eher ein Patriarch mit mafiösen Zügen, versucht den Jungen auf Normativität zu trimmen. Die Braut Emilia – Mezzosopran Sara Šetar statt eines Tenors für Arturo Bucklaw – steht schon bereit, da stürzt Edgardo in die Mitte der Gesellschaft.

Kein Gattenmord, kein Delirium: Statt Lucia in blutbeschmiertem Hochzeitskleid treten Luca und Edgardo in kongruent gefärbten Anzügen in die Mitte und zelebrieren zum extensiv genutzten magischen Klang der Glasharmonika (Friedrich Kern) ihre Hochzeit. Der „Wahnsinn“ der Musik wandelt sich in die Verzückung einer Utopie. Am Ende knallt die enttäuschte und verletzte Emilia ihrem erhofften Bräutigam eine und stürzt wütend hinaus. Auch die finale Szene Edgardos muss musikalisch erheblich bearbeitet werden, um einen Romeo-und-Julia-Schluss zu ermöglichen.

Ilaria Lanzino hat Donizettis Oper mit einer bewundernswerten inneren Konsequenz aus der Ecke der romantischen Schauerballade geholt und einen Weg gefunden, die zugrunde liegenden Vorstellungen von Weiblichkeit und Wahnsinn von der Hysterie weg in ein zeitgemäßes Psychogramm einer verpönten Beziehung zu transferieren, ohne dem Stoff Gewalt anzutun. Sicher sind die musikalischen Eingriffe diskussionswürdig, aber in diesem Fall lässt sich der Eingriff in den „Werkcharakter“ von Donizettis Oper mit der stringenten Dramaturgie der Inszenierung rechtfertigen – auch wenn zum Beispiel die ganze erste Szene des dritten Akts, der Turm von Wolferag, gestrichen ist.

Wie Lanzino im Programmheft sagt, fließen in ihre Arbeit „meine eigene Erfahrung sowie die von vielen Menschen ein, denen ich persönlich begegnen durfte oder über die ich recherchiert habe“. Das ist in den sorgsam ausgearbeiteten Szenen spürbar, und das hebt dieses „Lucia“-Experiment über die vielen übergestülpten Psychiatrie- und Irrenhaus-Szenarien hinaus, die Donizettis Oper in den letzten Dezennien über sich ergehen lassen musste.

Beispiele gefällig? Emine Güners Bühne etwa stellt ein wuchtiges Bett in die Mitte, umstellt von Scheinwerfern: ein Fluchtort des jungen Luca, der keinen Schutz bietet. Eine Beziehung ist in diesem Fall kein privater Akt, sondern eine quasi öffentlich Angelegenheit; der Blick der Gesellschaft auf das Bett gehört zum Selbstverständnis dazu. Für eine als „schändlich“, „krank“ und „gottlos“ qualifizierte Beziehung eine hoffnungslose Ausgangslage. In der inneren Vision Lucia/Lucas vom Gespenst der erstochenen Ravenswood-Braut im zweiten Bild am Brunnen („Regnava nel silenzio“) bündelt sich die Angst, und Lanzino schlägt beziehungsreich die Brücke zum „fantasma“ in der Wahnsinnsszene, in der dieses Trauma, eingehüllt in die unwirklichen Glasharmonikaklänge wiederkehrt.

Die Kostüme Emine Güners betonen die Kontraste: Der bunte Reigen der queeren Gesellschaft Lucas – ein sechsköpfiges Tänzerensemble, das in einer Choreografie von Valenti Rocamora i Torá nicht vor plakativem Posieren zurückscheut – steht in denkbar großem Kontrast zur düsteren Strenge der Familie. Das Regenbogen-Völkchen quillt buchstäblich aus dem Untergrund in die Szene. Auch die Rolle des Priesters Raimondo – eher dröhnend als balsamisch: Nicolai Karnolsky – wird ausdifferenziert: Vor der bewegungslos verharrenden Gestalt eines violett gekleideten Alternativ-Geistlichen wehrt Raimondo seine offensiven Standeskollegen ab, fügt die Hände der beiden Liebenden zusammen und gibt schließlich sein Priesterkreuz zurück. Ein klares, starkes Statement.

Mit Andromahi Raptis hat das Staatstheater Nürnberg die ideale Darstellerin für die androgyne Titelpartie. Ihre Stärke sind die feinen Lasuren im Zentrum. In der Höhe hat Raptis nicht die dramatische Durchschlagskraft, die für eine Lucia nötig wäre; sie produziert soubrettenhafte, mit Mühe gestützte Töne, die in den Koloraturpassagen wirkungsvoll, in den Legati nicht standfest genug sind. Aber die Einfühlung in den Charakter eines entwurzelten, verlassenen, seiner Panik und der Aggression seiner Umgebung schutzlos ausgelieferten Jungen gelingt ihr bewegend und glaubwürdig.

Ihr zur Seite der Edgardo von Sergei Nikolaev. Auch er ein feinstimmiger, sanft timbrierter, aber zu leichtgewichtiger Tenor, vor allem für die Finalszene der Oper. Doch passt er für den sensibel-fragilen Charakter, den die Anlage der Figur von ihm fordert. Nikolaev wäre eher ein Nemorino als ein Edgardo, aber auch für ihn gilt, dass er trotz seiner Überanstrengung in „Tu che a Dio spiegasti l’ali“ den Charakter seiner Rolle erfasst. Der dritte in der fatalen Konstellation ist Ivan Krutikov als Enrico: Eine mächtige Erscheinung, selbstbewusst und durchsetzungsstark, nicht zimperlich im Auftreten und der Wahl seiner Methoden. Eine passende Besetzung nach Typ, auch wenn Krutikovs stimmlich eher das Missverständnis pflegt, „Belcanto“ bedeute bombensichere, wuchtige Töne. Die Flexibilität und der geschmeidige Kavalierston eines Donizetti-Baritons gehen ihm ab.

Anstelle von Jan Croonenbroeck dirigierte Francesco Sergio Fundarò aus dem Team der musikalischen Assistenten die Staatsphilharmonie Nürnberg. Da gibt es anfangs Probleme mit einem inhomogenen Tempo, das den ansonsten tadellos singenden Chor zum Schleppen bringt. Da wirkt das Sextett eher buchstabiert als im großen Bogen entwickelt. Da dreht das Orchester stellenweise zu massiv auf und drängt die zarten vokalen Momente in die Defensive. Und das Vorspiel zum letzten Bild im dritten Akt bleibt an der Oberfläche, statt Spannung aufzubauen. Auf der anderen Seite lockt Fundarò aber die dramatischen Akzente hervor und erreicht durch flexible Balance zwischen Streichern und Bläsern aparte Farbwechsel.

Ilaria Lanzino hat in Nürnberg eine gewagte, tief reflektierte und trotz aller Eingriffe mit dem Werk respektvoll umgehende Inszenierung auf die Bühne gebracht, die Donizettis Meisteroper radikal im Horizont aktueller gesellschaftlicher Debatten verortet. So gestaltet ist die Belcanto-Oper nicht aus der Zeit gefallen, sondern zeigt in der Befreiung aus dem Korsett ihrer Epoche Relevanz jenseits der schönen Töne. Ähnlich muss Lanzino in Poznań vorgegangen sein: Für ihre Inszenierung von Stanislaw Moniuszkos Opernfragment „Jawnuta“ erhielt sie am 9. November den International Opera Award in der Kategorie Wiederentdeckung. So blickt man gespannt nach vorne, wenn sie sich an der Oper Leipzig nun mit „Mary, Queen of Scots“ der schottisch-amerikanischen Komponistin Thea Musgrave aus dem Jahr 1977 beschäftigt. Premiere ist am 16. Dezember.

 

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