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Opern-Kritik: Deutsche Oper am Rhein – Septembersonate

Opernliebe im Konjunktiv

(Düsseldorf, 3.12.2023) Wo liegt der Ich-Kern des Seins jenseits von gesellschaftlichen Rollen? Meisterkomponist Manfred Trojahn denkt Henry James‘ Novelle in seiner Uraufführung zu einer selbstkritischen Befragung der Egozentrik des schöpferischen Menschen weiter.

vonPeter Krause,

Schriftsteller haben normalen Männern, will sagen: ganz normal beschränkten Männern etwas Entscheidendes voraus: Sie sind in der Lage, ihre Gefühle auszudrücken, nicht nur auf drängende Nachfrage der geliebten Frau, sondern sogar von sich aus – und noch dazu sprachlich hochstehend, gar poetisch, womöglich auch mit philosophisch überhöhenden Untertönen. Einen solchen durchaus außergewöhnlichen Mann macht Manfred Trojahn zum Protagonisten seiner neuesten Oper „Septembersonate“, die an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf nun ihre Uraufführung feierte – mit Holger Falk, dem baritonalen Meister der Neuen Musik, in der alles entscheidenden Hauptpartie des Osbert Brydon, den der Komponist ausdrücklich als Schriftsteller, somit als hauptberuflich schöpferischen Menschen einführt, dessen Sprachbegabung in nahezu jeder gesungenen Zeilen offenbar wird.

Szenenbild aus Trojahns „Septembersonate“ an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf
Szenenbild aus Trojahns „Septembersonate“ an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf

Das allzu männliche Wühlen in den eigenen Wurzeln

Ob Trojahn damit insgeheim auch seine eigene Rolle als Kreativer reflektiert, darf angenommen werden. Wobei die Dinge in dieser Hinsicht sogar noch komplexer sind: Denn der Komponist greift als Textvorlage auf die Novelle „The Jolly Corner“ zurück, die der amerikanische Dichter Henry James anno 1908 schuf. Darin erzählt er von einem Mann, der seine familiären Gefilde in jungen Jahren verlässt, um in der Ferne sein Glück zu suchen, und dann in reifen Jahren in die heimatlichen Lebensumstände seines mittlerweile verwaisten Elternhauses, das seinerseits den Novellennamen „The Jolly Corner“ trägt, zurückkehrt. Hier fragt er sich ein seine Identität kritisch beleuchtendes „Was wäre wenn“: Was wäre aus ihm geworden, hätte er die Erwartungen an eine amerikanische Bilderbuchkarriere erfüllt? Und was wäre aus seiner Jugendliebe geworden? Hatte Henry James seinem (Anti-)Helden mutmaßlich auch seine eigene Biografie eingeschrieben – das Thema des Widerstreits zwischen den kulturellen Traditionen Europas und der Naivität der „Neuen Welt“ Nordamerikas durchzieht schließlich sein Werk –, denkt Manfred Trojahn seinen Opernprotagonisten dezidiert als in der Alten Welt zu Ehren gekommenen Autoren weiter, der nun die Rückkehr nach Hause zum Wühlen in seinen Wurzeln nutzt. Der Komponist charakterisiert seine Hauptperson, bei aller ihr eigenen, grundlegend empathischen Grundbegabung, als einen Mann des „Ich, Ich, Ich“. Und er gesteht, mit einigem selbstironischem Augenzwinkern, dass eine Künstlerpersönlichkeit nun einmal eine gehörige Portion an Egozentrik benötige, um der eigenen schöpferischen Bestimmung mit Konsequenz zu folgen.

Szenenbild aus Trojahns „Septembersonate“ an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf
Szenenbild aus Trojahns „Septembersonate“ an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf

Innere Handlung vs. theatralische Relevanz

Das Weiterdenken der Story des Henry James, die Manfred Trojahn schon seit den 1990er Jahren begleitet (als ihn der Opernregisseur Peter Mussbach dazu anregen wollte, die Musik zu einem Film über den Stoff zu schreiben), führte nun zu einer Opernkonstruktion, in der sich der Segen des Gelingens und der Fluch des Scheiterns enorm nahekommen. Denn der erfolgsverwöhnte Düsseldorfer schreibt ja nichts anderes als eine Oper im Konjunktiv. Das von ihm selbst verfasste Libretto in deutscher Sprache strotzt nur so vor Wort- und Gedankenspielen des „Hätte“ und „Wäre“. So sinniert Osbert Brydon etwa über die Frage „Wer ist denn der, der ich hätte sein können?“ oder „Wer wäre ich geworden?“ Da erinnert einer der größten deutschen Tonsetzer der Gegenwart an seinen größten Kollegen des 19. Jahrhunderts, der in „Tristan und Isolde“ sein legendäres Liebespaar zwar die musikalische Ektase des Eros gönnt, sie im eigenen Textbuch freilich in höchst verschrobenen Konjunktiven von der (Un-)Möglichkeit dieser Liebe philosophieren lässt. So anregend bei Richard Wagner diese Gedankenspiele sind und so grandios die Musik dazu geraten ist, so sehr bleibt es bis heute schwierig, die Dominanz der inneren Handlung in theatralische Relevanz zu überführen. Denn Oper als pures philosophisches Traktat ist eben keine Oper mehr.

Szenenbild aus Trojahns „Septembersonate“ an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf
Szenenbild aus Trojahns „Septembersonate“ an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf

Erinnerungsfetzen der verdrängten Vergangenheit

Hier kommt nun Manfred Trojahns Meisterschaft zum Tragen, der sich in „Septembersonate“ – ganz anti-wagnerianisch – in der hohen Kunst der Reduktion auf das Wesentliche übt. Es gibt keine Note zuviel und keine Note zu wenig. Große Kunst entsteht bei ihm durch das Weglassen alles Überflüssigen in einem enormen Akt der stetigen Verdichtung. Nur 15 Instrumente braucht Trojahn, um in sprechenden Einzelstimmen des Bläserquintetts aus Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott und Horn, des ohne Violinen auskommenden, gleichsam tiefergelegten Streicherseptetts, nebst Celesta, Klavier, Harfe und Schlagwerk einen tiefengestaffelten musikalischen Seelenraum zu bauen. Tosende Stille herrscht in ihm, der Puls eines schlagenden Herzens zwischen Erregung und Neugierde, zwischen Verzweiflung und Hoffnung wird immer wieder spürbar, Erinnerungsfetzen der verdrängten Vergangenheit tauchen auf und verschwinden wieder. Subtil ausgehörte Klangfarben, echte und erfundene Zitate zumal aus dem spätromantischen Umfeld von Richard Strauss sorgen für Fasslichkeit und legen Tiefenschichten der Psyche frei, die Osbert Brydon mit seiner Jugendliebe Ellice Staverton in ungeahnter neuer Resonanz zusammenführen. So verführen der Komponist und sein kongenialer Dirigent Vitali Alekseenok (der an der Deutschen Oper am Rhein ab August 2024 für drei Spielzeiten die Position des Chefdirigenten innehaben wird) mit den famosen Musikern der Düsseldorfer Symphoniker ihr Publikum zum präzisen Lauschen und zur eigenen Beantwortung all der im Konjunktiv gestellten Fragen. Trojahn klärt diese Fragen nicht für uns, setzt auf die Eigenverantwortung seiner Hörerinnen und Hörer. Kriegen die beiden Protagonisten sich, wie es in einem amerikanischen Film zum Thema fraglos der Fall wäre? Oder verpassen sie sich ein zweites Mal? Stirbt Osbert Brydon am Ende gar einen postmodernen Liebestod? All dies bleibt in der Schwebe in diesem angenehm offenen Kunstwerk, das sein Publikum fordert, aber nie überfordert.

Szenenbild aus Trojahns „Septembersonate“ an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf
Szenenbild aus Trojahns „Septembersonate“ an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf

„Erlebte Dunkelheiten“ im Stile des Film Noir und die Frage nach dem Sängersein

Durchweg ungewöhnlich für eine Uraufführung, in der sich Regieteams meist eher demütig mit Deutungsfuror zurückhalten, ist die eigenständige wie starke Handschrift von Johannes Erath und seinem Regieteam. Heike Scheele hat ihm einen Erinnerungsraum in Film Noir-Manier auf die Bühne gestellt und Kostüme ersonnen, die direkt auf die Entstehungszeit der Novelle von Henry James anspielen. Die im Text beschworenen „Erinnerungen an erlebte Dunkelheiten“ ziehen als spielerische Surrealitäten vorüber. Und die zeitlosen Kernfragen des Werks nach dem Ich-Kern des Seins jenseits von gesellschaftlichen Rollen werden anregend durchdekliniert: Da geht es um das Erfüllen von Erwartungen und das Spielen von Rollen, überhaupt das Annehmen und Verwerfen von Identitäten und die Suche nach dem wahren Sein. Schillers Frage nach dem Menschsein als Frage des Spielens wird dann sogar unmittelbar mit den wunderbaren Sängerdarstellern durchdekliniert. Denn auch ihre Biografien scheinen am Ende über die eigene Körperlichkeit und die in ihren Körpern sitzenden Stimmen mitzuschwingen. So spielt Holger Falk mit seinem in jeder Phrase am Wort entzündeten (Sprech-)Gesang zwar diesen merkwürdigen Selbstsucher Osbert Brydon und gibt dennoch als singender Mensch mit seiner leichtgängigen, herrlich hellen Baritonstimme auch viel von sich selbst preis, der eigenen Sinnsuche und den eigenen Verwundungen. Er lässt (und Johannes Erath verlangt es ihm sogar explizit ab) seelisch die Hosen runter. Das finale Liebesduett und die angeschlossene Filmsequenz im Opernfoyer mit der Ellice Staverton von Sopranistin Juliane Banse wird durch den Mut des Grenzgangs dann bei allem vorangegangen Opern-Konjunktiv auch zur Klärung einer höchst praktischen Frage des Opernmachens: An welchem Punkt mutieren Sänger eigentlich zur dargestellten Figur? Und inwieweit bleiben sie dennoch sie selbst als singender, sich entäußernder Mensch?

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf
Trojahn: Septembersonate

Vitali Alekseenok (Leitung), Johannes Erath (Regie), Heike Scheele (Bühne & Kostüme), Nicol Hungsberg (Licht), Bibi Abel (Video), Anna Melcher (Dramaturgie), Holger Falk, Juliane Banse, Roman Hoza, Susan Maclean, Düsseldorfer Symphoniker

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