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Opern-Kritik: Staatstheater Kassel – Don Giovanni

Eine Hölle aus Anstand und Ordnung?

(Kassel, 17.12.2023) Paul-Georg Dittrich inszeniert Mozarts Oper aller Opern als Event in der die vierte Wand aufhebenden Raumbühne „Antipolis“.

vonRoberto Becker,

Stell dir vor, es ist Oper und keiner geht hin. Weil er die „content note“ ernst nimmt, mit der die Homepage eines Theaters vor allen Risiken und Nebenwirkungen warnt, die ein Besuch haben könnte. Bislang passiert das zum Glück nicht. Auch nicht in Kassel. Ganz im Gegenteil. Eine seit der Premiere komplett ausverkaufte „Carmen“ (des regieführenden Hausherrn Florian Lutz in der aktuellen Raumbühne) – so etwas gibt es auch nicht überall. Es ist schon ein seltsames Zeitphänomen, wenn Opernhäuser ihre Zuschauer im Grunde vor dem Erfolg ihrer eigenen Produkte warnen. Also davor, dass „manche Stückinhalte Gefühle auslösen können, die überfordernd, verstörend, verletzend sein könnten“. Die also genau das bewirken, was man u. a. als Zweck einer Institution vermuten dürfte, die man gern auch als Kraftwerk der Gefühle bezeichnet.

Szenenbild aus „Don Giovanni“ am Staatstheater Kassel
Szenenbild aus „Don Giovanni“ am Staatstheater Kassel

Oper mit Content Note. Oder: amerikanischer Betroffenheits-Political-Correctness-Import

Man fragt sich – zum Beispiel im Falle der Oper der Opern – wie viele Fälle der insinuierten „Retraumatisierungen“ in der Rezeptionsgeschichte schon vorgekommen sind, weil ein Zuschauer mit eigenen Gewalterfahrungen auf der Bühne mit ansehen musste, wie Masetto oder wer auch immer zusammengeschlagen wird oder der Titelheld zur Hölle fährt. Oder welche weibliche Zuschauerin sich vom exemplarischen Verführer Don Giovanni als Objekt der Begierde herabgesetzt fühlt. Oder nicht vielleicht sogar gerne mal so einem Typen begegnen würde. Wie ganz offensichtlich seine Ex Donna Elvira im Stück. Welche Art von Zuschauer unterstellt eigentlich ein Hinweis, der sich hinter dem englischen Link „Content Note“ verbirgt und davon ausgeht, dass jemand eine Opernkarte kauft und jedenfalls nichts Berührendes, Verstörendes, nichts, was mit Gewalt oder Exzess zu tun hat, erwartet. Es fällt schwer zu akzeptieren, im Land mit der größten Orchester- und Stadttheaterdichte der Welt und dem immer noch dazu passend vorgebildeten Publikum, auch diesen amerikanischen Betroffenheits-Political-Correctness-Import aufzudrängen. Leider machen das auch Theater, deren künstlerische Arbeit und Engagement beim Zugehen auf ihr Publikum, man ansonsten nur in den höchsten Tönen loben kann. Im Deutschen Nationaltheater in Weimar etwa wird das bis an den Rand der unfreiwilligen Warnungs-Satire getrieben. Aber auch Kassel macht da mit. Auf die Bühne färbt diese Art von Eifer bislang nur bei der landes- (bzw. dramaturgenblasen) weiten Tabuisierung von Worten ins Gewicht, die bei Strafe des öffentlichen Shitstorms nur noch mit dem Anfangsbuchstaben und einem Sternchen auftauchen dürfen.

Szenenbild aus „Don Giovanni“ am Staatstheater Kassel
Szenenbild aus „Don Giovanni“ am Staatstheater Kassel

Die Perspektive der Frauen auf den exemplarischen Mann

Nun wird zwar in Bezug auf Da Pontes Libretto vor sexistischen Inhalten (was wohl frauenfeindlich meint) gewarnt. Aber da natürlich Italienisch gesungen wird und in der diesmal mit hellem Karomuster aufgehübschten Raumbühne „Antipolis“ von Sebastian Hannak immerfort allerhand los ist, merkt das eh keiner. In Paul-Georg Dittrichs ambitionierter Inszenierung geht es zudem um die Perspektive der Frauen auf den exemplarischen Mann Don Giovanni und seine Artgenossen. Was ein selbstbewusstes weibliches Zulangen einschließt. In dieser Inszenierung haben es alle drei Frauen sozusagen faustdick hinter den Ohren. Und die entsprechende vokale Durchschlagskraft in den Kehlen. Allen voran Ralitsa Ralinova als höchst selbstbewusste Donna Anna. Aber auch Margrethe Fredheim macht aus Donna Elvira eine intensiv fühlende Frau mit der Bereitschaft einzugreifen, wenn es ernst für ihren Ex wird. Marie-Dominique Ryckmanns komplettiert dieses Frauenpower Trio mit einer robusten Zerlina. Probleme der technischen Aussteuerung der durch die Dimensionen der Raumbühne bedingten Mikroportverstärkung fallen bei den Damen (zumindest von den vorderen Parkettreihen aus) weniger ins Gewicht, als der Nachjustierungsbedarf etwa beim wohltimbrierten Filippo Bettoschi als Don Giovanni. Serhii Moskaluchuk ist ein viriler Leporello, und Johannes Strauß bewahrt seinen Don Ottavio mit betörend substanzreichem Schmelz vokal vor jedem Verdacht, nur ein Weichei zu sein. Don Lee ist der dunkel dröhnende Komtur. Als einziger Gast komplettiert Nicholas Crawley das Protagonistenensemble mit einem kernigen Masetto. In der Mitte des Geschehens behaupten Mario Hartmuth und das Staatsorchester mit Umsicht ihre zentrale Rolle. Was auch dadurch unterstrichen wird, dass die Ouvertüre an den Beginn des zweiten Aktes nach der Pause verlegt wurde. Das passt zu der Krise, in die Don Giovanni da geraten ist, und lädt sie grundsätzlich auf.

Szenenbild aus „Don Giovanni“ am Staatstheater Kassel
Szenenbild aus „Don Giovanni“ am Staatstheater Kassel

Leporello mit Narrenkappe

Den Einstieg in die Geschichte gibt es also unvermittelt. Da wird ein Leporello mit Narrenkappe festgeschnallt im Rollstuhl auf dem Laufsteg, der den Zuschauerraum in zwei Hälften teilt, geradewegs auf die Bühne gerollt. Und landet im Getümmel vor dem aus der Versenkung hochgefahrenen Schlafzimmer Donna Annas. Warum er mit Rollstuhl kommt, ist nicht so ganz klar. Allenfalls als eine Art Klammer, denn am Ende sitzt auch der tote Don Giovanni im Rollstuhl an der Rampe. Wobei die in der Raumbühne nicht die trennende Funktion hat wie bei einer herkömmlichen Guckkastenbühne, in der sie die unsichtbare vierte Wand markiert. In der Raumbühne wird vor, hinter, neben oder über dem Orchester gespielt, das im Zentrum des Geschehens postiert und für den Energiestrom der Musik zuständig ist. Auch die Zuschauer sind wieder zusätzlich zum Zuschauerraum auf Galerien auf der Hinter- und den Seitenbühnen verteilt.

Szenenbild aus „Don Giovanni“ am Staatstheater Kassel
Szenenbild aus „Don Giovanni“ am Staatstheater Kassel

Er war es nicht

Dass Don Giovanni in dieser Position endet, hat nichts mit dem Eingreifen himmlischer oder höllischer Mächte zu tun, die einen eiskalten Mord rächen wollen. Einerseits hat der Verführer und Libertin hier selbst gar keinen Mord begangen. Das Getümmel der ersten Szene eskalierte zwar, als sich der Komtur eingemischt hatte. Aber die Pistole befand sich in der Hand von Donna Anna, als sich der für den Alten tödliche Schuss löste. Donna Anna verdrängt das, zumal sie eh in ihrer eigenen Art von Wirklichkeit lebt. Wie sie Don Ottavio die Anwesenheit Don Giovannis in ihrem Schlafzimmer „erklärt“, das spottet nach dem, was man hier mit ansehen konnte, noch mehr also sonst jeder Beschreibung! Andererseits ist es bei Dittrich eine (auch in den Kostümen von Anna Rudolph) erkennbar gleichgeschaltete Gesellschaft, in der Don Giovanni in jeder Hinsicht aus dem Rahmen fällt. Optisch ist bei allen (einschließlich Leporello, Masetto und Don Ottavio) einheitliches Wasserstoffblond angesagt. Der Einheitslook ist nur bei Anna Elvira und Zerlina leicht abgewandelt. Auf den im Raum verteilten Bildschirmen für die live gedrehten Nahaufnahmen erscheinen immer wieder die Schlagworte wie Tugend, Anstand, Hoffnung, Rettung, Engagement und Ordnung. Und genau die wird dann bei der großen „Abrechnung“ mit Don Giovanni wieder hergestellt. Im Gruppentherapiestuhlkreis versammeln sie sich in geheimnisvollen Mänteln mit Kapuzen und Masken, verbreiten eine Aura von Sektenritual und halten Gericht über den Abweichler und alles durcheinanderbringenden Libertin. Dabei entpuppt sich vor allem Leporello als ein Typ, der die Frustration des Zukurzgekommenen, in Aggressivität gegen den als Verführer Erfolgreichen ummünzt. Das hatte man so bislang noch nicht auf dem Schirm. Auch das rückt diesen „Don Giovanni“ auf subtile Weise an die Gegenwart heran. Das Kassler Premierenpublikum ließ sich auf das Raumbühnen-Event ein. Und darf wohl davon ausgehen, dass ein paar technische Unzulänglichkeiten bei der Aussteuerung noch nachjustiert werden.

Staatstheater Kassel
Mozart: Don Giovanni

Mario Hartmuth (Leitung), Paul-Georg Dittrich, (Regie), Sebastian Hannak (Bühne), Anna Rudolph (Kostüme), Jürgen Kolb (Licht), Teresa Martin (Dramaturgie), Marco Zeiser Celesti (Chor), Filippo Bettoschi, Ralitsa Ralinova, Johannes Strauß, Margrethe Fredheim, Serhii Moskalchuk, Marie-Dominique Ryckmanns, Nicholas Crawley, Staatsorchester Kassel

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