Berlin ist trotz dreier Musiktheater seit Langem eine Belcanto-Wüste. 2006 gab es zum letzten Mal eine Donizetti-Seria. Jetzt hat die Deutsche Oper halbherzig dessen „Anna Bolena“ in einer manieriert langweiligen, aus Zürich geliehenen Inszenierung gegeben. Mit einer völlig überforderten, nur fadschön vor sich hin säuselnden Primadonna nachhaltig beschädigt.
Tags darauf trat Maria Stuart auf die Leipziger Opernbühne. Aber eben nicht als „Maria Stuarda“ von Donizetti, sondern als „Mary, Queen of Scots“, so wie sie die heute 95-jährige, in New York lebende Thea Musgrave 1977 passenderweise fürs Edinburgh Festival komponiert und auch als Uraufführungsdirigentin geleitet hat.
Grundlage bei Musgrave ist ein Theaterstück. Elisabeth I., Maria Stuarts Cousine, fehlt völlig. Und die fatale Entscheidung, wegen der Querelen im heimischen Schottland nach England zu fliehen, trifft Maria erst am Ende des üppigen Dreiakters.
Vorher aber ist die eben erst 18-Jährige als königliche Witwe aus Frankreich zurückgekehrt. Sie kommt aus einem Land der Wärme, Freunde und Schönheit in eine männerdominierte Welt politischer Intrige. Sie weiß nicht, für welche Seite sie sich entscheiden soll, wem sie glauben darf, Adel wie Kirche umwerben sie gleichermaßen.
Mary wird souveräner, trifft eigene, nicht immer richtige Entscheidungen, für die falschen Männer und Liebhaber, wird vergewaltigt, bekommt einen Sohn. Der Lover wird vom miesen Gatten ermordet. So mutiert sie durchaus zum Monster und könnte am Ende, so wie die egozentrische Protagonistin im „Elisabeth“-Musical, „Ich gehör‘ nur mir“ singen.
In Leipzig wird sie gar am Ende abgefackelt. Sie geht als Fanal am Ende im Flammen auf. Heute ist sie nur Projektion, Objekt der jeweiligen Propaganda, mal optimiert, mal in dem Schmutz gezogen. Und als Hexe der Geschichtsschreibung verbannt.
Schwarze Grufties, schwere Mäntel
Dazu komponierte Thea Musgrave für ein Kammerorchester mit großer Schlagwerkbatterie eine eklektizistisch eindringliche Partitur, weniger geschult an der damals herrschenden Avantgarde, eher mit Benjamin Britten als Vorbild. Ähnlich wie Britten in seiner Krönungsoper „Gloriana“ operiert sie mit Originalmusik der Zeit, die sie überschreibt, collagiert, verzerrt, darin aber greller, aggressiver, lauter. Trotzdem kommt die Handlung durch viel Parlando und wenige ariose Stellen gut rüber.
Obwohl hier, auf einer Bühne zwischen Holztischen als Bergen geschichtet (von Dirk Becker), alle aussehen wie beim Leipziger Wave-Gothic-Treffen zu Pfingsten: Schwarze Grufties im (Schotten-)Rock, mit schlechten Haaren und totenschädelweiß geschminkt (Kostüme: Annette Braun). Ein Lüster hängt in der Ecke, die Krönungsinsignien werden prominent hergezeigt.
Mary muss sich im schweren Mantel ihren Weg über die Höflingsköpfe hin zu ihrem goldenen Thron an der Spitze mühselig erobern. Dessen Kehrseite: eine weiße Kloschüssel. Darin werden die Geschichte, aber auch deren Spieler entsorgt.
Der sich anbiedernde Bischof (Randall Jakobs) wird entfernt, der ihr Gewalt antuende Earl of Bothwell ebenso (ihn spielt – für einen erkrankten Mitwirkenden – die Regisseurin selbst, am Rand singt mutig aus den Noten Eberhard Francesco Lorenz). Marys blond-brutales Gattenwürstchen Lord Danley (mit Verve: Rupert Charlesworth) schlachtet den Lover David Riccio (poppig: Sejon Chang) ab, der Halbbruder James (gruselig: Franz Xaver Schlecht) wird schnell zur Mary verfolgenden Nemesis.
Doch die herausragende, unendlich wandelbare Nicole Chevalier gibt mit kraftvollem, auch schneidendem Sopran eine Mary, die als Greta Thunberg megaphonbewehrt von außen hereinbricht, mit einem aktivistisch-epischen Brecht-Chor, der an den Zuschauerraumrändern verharrt und sich „No Future“ auf die Jacken geschrieben hat.
Sie, in ihrem korsettrüstungsartigen Outfit wird aber auch vom schutzbedürftigen, irgendwann hochschwangeren Mädchen zur Megäre, zu Richard III. sogar: ein böses, auch auf maximalen Machterhalt fixiertes Biest, das seine politische Lektion gelernt hat.
Eine Oper mit Schauwerten wie akustischem Gewinn. Dass Maria Stuart hier nicht nur, wie bei Donizetti und Schiller, passiv romantisch Leidende, sondern Spielerin ist, wenn auch meist fehlgeleitet, dass sie nicht im Schatten ihrer Cousine Elizabeth I. steht, das ist der Verdienst von Thea Musgraves sympathisierendem, aber eben auch analytisch-kaltem Blick auf diese jüngere Mary – nach wie vor eine der in den Strudeln der Geschichte umhergeworfene, faszinierend historische Frauengestalt.
Auch wenn gerade Matthias Foremny am Pult des sehr guten, engagiert plastisch aufspielenden Gewandhausorchesters treibend rhythmisch ihre Aktualität als kämpfende Frau in einer Männerwelt betont. Hier ist Mary die aktiv Handelnde, wenngleich durch die brutalen, ganz selten nur liebevollen Verhältnisse geprägt. Ein Marienleben der anderen Art.