Fürchte deine Mutter: „Elektra“-Premiere am Royal Opera House

Royal Opera House/ELEKTRA/N. Stemme, S. Jakubiak/ Elektra © ROH 2024 Photo by Tristram Kenton

Als „bold“ – kühn – kündigte das Royal Opera House seine neue Inszenierung der Elektra durch Christof Loy in den sozialen Medien an, als „Greek tragedy as you’ve never seen it before“. Will heißen: eine griechische Tragödie, wie man sie noch nie sah, in jedem Fall besetzt mit hochkarätigen Namen in den wichtigsten Positionen. Doch bewährt sich am Ende nur einer: der große Held des Abends? Sitzt bei klaffender Ambitionslosigkeit der Regie und teils durchwachsener Gesangsleistung im Graben. (Rezension der Premiere vom 12. Januar 2024)

 

Im braungrau getünchten Hintereingang eines Herrenhauses lümmeln Mägde auf Klappstühlen und einer Steintreppe, die dringlichst Bekanntschaft mit einem Kärcher machen sollte. In den Ecken liegen ungewaschene Lumpen; die Dienstboten des Hauses tratschen. Die Arbeitsmoral hängt in den Seilen und das nicht erst seit vorgestern. Lieblingsthema dieses und aller Tage in dieser stehengebliebenen Welt ist die tituläre Elektra, die sich als Zeichen ihrer Entsagung aller Freude und Lebensteilnahme seit dem Mord an ihrem Vater ebenfalls eine Dienstmädchenuniform angezogen hat – schwarzes Kleid, weißer Kragen, das Loy’sche Schwarzweißschema verlangt stetige Würdigung. Oder vielleicht nur, um den Mägden einen gehörigen Schrecken einzujagen. So taucht sie urplötzlich in deren Mitte auf und verschanzt sich auf der Kellertreppe, in den Mikrokosmos des Hinterhofes hineinspähend. Es schwelt eine ungesunde, gewalttätige Stimmung im Haus; junge Männer, ihre Anzüge im selben Schwarzweiß wie die Frauen, greifen sich gelegentlich für Strafen und böse Vergnügen eine der Mägde. Gestalterisch klug: durch hohe Fenster sieht der Zuschauer auch in den Hausflur, sieht, was sich dort im Haus abspielt, erspäht die Unruhe, die sich durch die auffliegende Tür hinaus auf die Treppe und den Hinterhof kübeln wird. Das alles ist das Gerüst einer Inszenierung – stabil, strukturgebend, beugsam gegenüber dem, was der Text vorgibt. Das ist in diesem Fall: „Ich will hinunter“. Treppab stolziert also Klytämnestra. Passt. Nur: wo bleibt das weiche Fleisch, das einem Gerippe Fülle, Form und Reiz verleiht, in dem man sich geistig vergraben kann? Das Schreckpotenzial ist abgemagert und kraftlos; die Beleuchtung als Hebel dessen (Licht: Olaf Winter/Bühnenbild, Kostüme: Johannes Leiacker) fast immer vernachlässigt. Wer sich vor traditionsinspirierter Kulisse eine Lehrstunde der psychologischen Analyse wünscht (von dem Wort „Meisterklasse“ sei einmal ganz zu schweigen) – oder auch nur ein Psychogramm, ein Konzept der Identität dieser Figuren, eine erkennbare Personenregie – wird enttäuscht. Loys Fähigkeit, einer tiefen Schock-Horror-Tragödie die Zähne zu ziehen, ist beinahe bemerkenswert.

Royal Opera House/ELEKTRA/N. Stemme, K. Mattila/ Elektra © ROH 2024 Photo by Tristram Kenton

So kippt die Inszenierung fast ungebremst ihr ganzes psychologisches Faszinationspotenzial über der Besetzung aus, die dieses nach Möglichkeiten umzusetzen versucht. Ausgerechnet Nina Stemme legt als dominante Figur des Dramas eine höchst wechselhafte Leistung an den Tag. In ihren besten Momenten tönen eine satte, eingedunkelte Mittellage und – trotz manchmal unkontrolliert wirkendem Ansatz – schallende Spitzentöne, deren Höhe der Sopranistin per se keine Schwierigkeiten machen. Doch ausgerechnet die Piani kratzen an der Stimme, lassen sie einmal gar ganz abbrechen. Das breite Vibrato bekommt den leisen Tönen nicht, verschluckt die gute Projektion und treibt manche Töne in Elektras „Aussprache“ mit Orest – sie spricht, er schweigt – gen Flucht ins Unhörbare. Die Aufgabe, die Spielmacherin dieser Inszenierung zu sein, ist eine große, der Stemme dramatisch nur in den zärtlicheren Momenten gerecht wird – „Orest!“, der Ton sengt, endlich darf sie ihren Bruder umklammern. Das Fähigkeit dieser Elektra, einen ganzen Haushalt mit aggressivem Verhalten und einer schwerverletzen Seele von morgens bis abends zu terrorisieren, sodass sich die Mutter entschließt, auch die zweite Tochter vorsichtshalber einzusperren, ist jedoch verschwindend gering.

Sara Jakubiak als Chrysothemis wirkt der Schwester gegenüber stimmlich hell, fast mädchenhaft. Es drängt sich die Idee einer kleinen Schwester auf – oder der eines Ziervogels, einem der „angehängte[n] Vögel“, von denen sie singt, hübsch herausgeputzt im rosa glänzenden Ballkleid. Dem „[…] kein Bote von dem Bruder, nicht der Bote von einem Boten“ fehlt am unteren Ende des Soprans ein wenig der schwere Ernst, die Mittellage verspricht einen Glanz, die das obere Register nicht immer hält, doch das verleiht dem herausgeputzten, angehängten Vogel angenehme Ecken. In den oberen Lagen liegen ihr die kantigeren Gefühle, in ihren Gesten lebt eine erstaunlich unversehrte Beziehung zu ihrer racheversessenen Schwester.

Über den Schwestern schwelt ihre Mutter, Karita Mattilas Klytämnestra, als unangefochtene Grande Dame des Hauses. Bissig, melodramatisch, wenn die Aufmerksamkeit auf ihr ruht, eine Herrscherin bis ins Blut, die sich besagte Aufmerksamkeit beherzt auch selbst greift, phrasiert Mattila abwechslungsreich und mutig, kostet die fahlen Tiefen ihrer Stimme aus. Blutdurst geht dieser Mutter keinesfalls ab, doch verrät ein plötzlicher Sprechtonfall in ihren Rechtfertigungen über Orests Schicksal ein allzu schlechtes Gewissen, das plötzlich auf die schmutzige Treppe schwappt und dann mit dem breiten, schmaläugigen Lachen eines Schakals aufgewischt wird. Unerbittlich muss der Hof seine Mutter fürchten.

Royal Opera House/ELEKTRA/Ł. Goliński, Ch. Workman, M. Mofidian/ Elektra © ROH 2024 Photo by Tristram Kenton

Der mit diesem Lachen totgeglaubte Orest (Łukasz Goliński), letztes Kind im Bunde, bleibt stets in sich gekehrt, eher blass statt entschieden steinern, und fügt sich in den Schwebeklang aus dem Graben auf „Lass den Orest“ nicht ganz ein; Willensstärke liegt seiner Stimme eher. Charles Workman als Ägisth liefert dagegen fast heldische Untertöne im Tenor und eine erstaunlich erheiternde Ungelenkigkeit bei seiner nächtlichen Rückkehr. Klug aufeinander abgestimmte Mägde (Noa Beinart, Veena Akama-Makia, Gabrielė Kupšytė, Ella Taylor und Valentina Puskás) sowie geschickt besetzte kleine Partien erfreuen durchweg.

Der wahre Triumph des Abends gehört letztendlich ganz Sir Antonio Pappano. Es gilt das Motto: lichte mit Dichte, und so wird bereits die erste Szene klar geführt, kleine Spannungssteigerungen genutzt, doch nie bis zum Äußersten, bis zum Schreien, ausgereizt. Niemand will übertrumpfen; das Modern-Expressionistische bleibt der Musik eigen, doch ihr erschlagendes Potenzial wird geschickt umschifft. Gelenkig tönt das Orchester stattdessen; in ihren unruhigen Momenten scharrt die Musik im Graben, kratzend wie leichte Rattenfüße, und die Dunkelheit dieser Oper liegt ganz in der Ruhe, die Pappano immer wieder heraufbeschwört. Die wahre griechische Tragödie geht ganz vom Graben aus und spart gerade deshalb keine Zärtlichkeit aus: in sanften Bögen leuchtet bei der Erkennung des Orest eine Liebe auf, die es an diesem Hofe schon lange nicht mehr gibt.

Und am Ende? Wird applaudiert, in variierender Lautstärke, am meisten für das Dirigat. Offene Missfallensbekundungen aller Art bleiben zumeist – und im Royal Opera House ohnehin, einem Theater, das jahrhundertealten britischen Stoizismus kultiviert – denen Regieeinfällen vorbehalten, die einer zu viel waren. An einem Einfall zu wenig könne man sich wenigstens nicht die Füße stoßen, denkt man – doch die Wahrheit sieht tatsächlich anders aus.

 

  • Rezension von Lynn Sophie Guldin / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Royal Opera House / Stückeseite
  • Titelfoto: Royal Opera House/ELEKTRA/N. Stemme/ Elektra © ROH 2024 Photo by Tristram Kenton
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