Essen: „Fausto“, Louise Bertin

Als Intendantin Dr. Merle Fahrholz vor der Ouvertüre auf die Bühne trat, war klar: es ist etwas passiert. Die Darstellerin der Margarete, Jessica Muirhead, war kurzfristig erkrankt, und es musste in allerletzter Sekunde Ersatz gefunden werden. Was im Kernrepertoire kein Problem ist, war hier die Herausforderung für Netta Or, die die anspruchsvolle Partie der Margarete von der Seite vom Blatt sang und von der Regisseurin Tatjana Gürbaca szenisch gedoubelt wurde. Das Publikum dankte mit langanhaltendem Beifall.

© Forster

Es ist die erste Vertonung der Gretchen-Tragödie aus Goethes „Faust“, die 1831 im Pariser Théâtre Italien am 7. März 1831 uraufgeführt wurde, allerdings nach nur drei von der Kritik durchaus gelobten Vorstellungen in der Versenkung verschwand. Komponistin und Librettistin war die 1805 geborene Louise Bertin, die als Tochter einer wohlhabenden intellektuellen Familie alle Förderung bekam, die man sich vorstellen kann, zumal sie nach einer Polio-Erkrankung schwer gehbehindert war. Ehe und Mutterschaft waren für sie nicht vorstellbar. Ich kann mir vorstellen, dass Bertins Libretto und ihre Vertonung für ihre Zeit zu modern waren.

Die Handlung von Goethes „Faust“ ist dem Opernpublikum bekannt, daher ist „Fausto“ von Louise Bertin als einzige Vertonung, die noch zu Goethes Lebzeiten uraufgeführt wurde, ein spannender Opernabend. Es ist eine durchkomponierte Oper mit wenigen Secco-Rezitativen in den ersten beiden Akten und hat eine dramatische Kraft wie Carl Maria von Webers „Freischütz“, ähnelt in der Tonsprache aber auch Rossini und Mozart. Bei der Abfassung der deutschen Übertitel hätte man besser die Übersetzung aus dem italienischen Libretto mit Goethes Text abgeglichen, denn geflügelte Worte wie „Heinrich, mir graut vor dir“ waren durch die Übersetzung aus dem Italienischen arg entstellt.

Regisseurin Tatjana Gürbaca, die zugesagt hatte, eine Oper der Komponistin Louise Bertin zu inszenieren, entschied sich sofort für „Fausto“, als sie erfuhr, dass man 2020 die Partitur in der Bibliothèque nationale de France in Paris wiederentdeckt hatte. Es gibt schon eine Einspielung der konzertanten Aufführung 2023 nach der Notenedition des Forschungszentrums Palazzetto Bru Zane mit Les Tales Lyriques und dem Dirigenten Christoph Rousset. Die Essener Produktion ist die erste szenische Umsetzung seit 1831.

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Die Kostüme von Silke Willrett mit einem roten Kleid im Stil der 50er Jahre mit Petticoat für Margarete deuten an, dass man die Handlung in die Nachkriegszeit verlegt hat, in der eine Schwangerschaft für die Frau noch eine Katastrophe war, wenn der Kindsvater sie nicht heiratete. Das Bühnenbild von Marc Weeger verlegt Fausts Labor in die Pathologie eines Krankenhauses, wo Faust als alter Arzt und Margarete als Laborantin arbeitet.

Die vier Akte sind überschrieben La Tentazione  (Die Versuchung), La Felicita (Das Glück), Il Misfatto (Das Verderben) und La Pena (Die Bestrafung).  Louise Bertin hat die Gretchen-Tragödie aus der Sicht der betroffenen Frau dargestellt. Schon im zweiten Akt warnen Margaretes Freundinnen in einem Chor einander vor der Liebe, die eine große Gefahr darstelle. Doch Margarete verliebt sich in den von Mephisto durch bösen Zauber verjüngten Faust, der sie umgarnt, während sich Mephisto mit der verwitweten Catarina vergnügt. Das Abschlussquartett des 2. Akts stellt den kurzen Moment des Glücks Margaretes dar.

Als bekannt wird, dass Margarete unehelich schwanger ist, wird sie von ihren Freundinnen verspottet und ausgegrenzt. Es ist eine unglaublich starke Chorszene, wie bei Carl Maria von Weber der Spottchor im „Freischütz“. Das Unglück eskaliert, als Faust Margaretes aus dem Krieg heimgekehrten Bruder in einem Zweikampf tötet. Die Kampfszene ist sehr anschaulich vertont.

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Als Mephisto Faust berichtet, Margarete habe ihr Neugeborenes im Fluss ertränkt und sei deshalb zum Tode verurteilt worden, bereut Faust seine Taten und möchte Margarete retten, aber die hat bereits entschieden, die Todesstrafe für ihr Verbrechen der Kindstötung zu akzeptieren. Faust bleibt verzweifelt zurück, und seine Seele gehört dem Teufel – die Vergeltung für seine Treulosigkeit als Mann.

Louise Bertin hat mit sicherem Gespür die Kernszenen des Dramas umgesetzt und mit den Mitteln ihrer Zeit vertont. Es gab noch keine Opern von Verdi und Wagner, Rossini hatte gerade seine Opernproduktion eingestellt, und das Théâtre Italien unter Rossinis Leitung spielte Opern von Mozart und zeitgenössischen Komponisten. Die Ouvertüre beginnt – wie „Don Giovanni“ – mit dem D-moll-Akkord, dem Akkord von Tod und Rache, geht aber dann anders weiter. In den ersten beiden Akten erinnern Faust und Mephisto an Don Giovanni und Leporello, die Tonsprache könnte von Rossini sein.  Im dritten und vierten Akt geht Bertin mit ihren expressiven musikalischen Mitteln deutlich über die Regeln ihrer Zeit hinaus. Dirigent Andreas Spering lobt die Originalität von Bertins Komposition, vor allem die Orchestrierung und die teilweise ungewöhnliche Verwendung der Singstimmen. In Essen hat man moderne Instrumente eingesetzt, da musste er das Orchester bremsen, um die Singstimmen nicht zuzudecken. Bertin hat Grundzüge des Komponierens bei ihrem Gesangslehrer, dem Komponisten François Joseph Fétis gelernt. Die damals geltenden Regeln des Kontrapunkts hat sie nie lernen dürfen, denn der Besuch eines Konservatoriums war den Männern vorbehalten. So komponierte sie nach ihrem Gefühl, was zu starken, für ihre Zeit modernen Szenen führte.

Mit der Frustration des alten Gelehrten Dr. Faust, der nach Erkenntnis und Jugend strebt, eröffnet Mirko Roschkowski den ersten Akt. Als er die junge naive Margarete erobern will, ruft er den Teufel an, um sich zu verjüngen. Seine Partie ist ungeheuer fordernd, denn er steht die meiste Zeit auf der Bühne. Mit seinem wunderschön timbrierten lyrisch-dramatischen Tenor drückt er die intensiven Gefühle des Titelhelden – Lebensüberdruss, Verliebtheit und tiefe Reue – aus, die zwar in italienischer Sprache, aber in französischem Stil komponiert sind. Allein seine Reue-Szene im 4. Akt, bei der er alle Register zog, war den Besuch wert! Seine Stimme ist unverkennbar in den zahlreichen Ensembles.

Netta Or gestaltete die anspruchsvolle lyrisch-dramatische Partie der Margarete souverän, trotz der ungünstigen Begleitumstände. Tatjana Gürbaca agierte dazu, was allerdings zu szenischen Irritationen führte. Bassbariton Almas Svilpa ist Mephisto, der in Gestalt eines wiederbelebten sezierten Leichnams am Schluss den Triumph genießt, Faust in die Verdammnis gerissen zu haben. Svilpa hält als erfahrener Bösewicht die Aufführung im spießigen Anzug eines Buchhalters zusammen. Eine Hexe und Marthe Schwertlein sang Natalija Radosavlevic. Die Mezzosopranistin Nataliia Kukhar war Catarina, die von Mephisto umgarnt wird. Valentin, Margaretes Bruder, war der Tenor George Vîrban, der als heimgekehrter Soldat ein patriotisches Lied singt und von Faust im Zweikampf getötet wird.

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Die übrigen Partien sind aus dem Ensemble hochkarätig besetzt. Der Opernchor des Aalto-Theaters und die Essener Philharmoniker unter der Leitung von Andreas Spering blieben der Partitur nichts schuldig.

Es wäre unfair, Bertins Oper, zu der sie auch das Libretto geschrieben hat, mit Berlioz´ „Damnation de Faust“ (1846) und Gounods „Faust“ (1861 Urfassung mit gesprochenen Dialogen, 1869 Fassung als Grand Opéra mit Ballett) zu vergleichen, denn im 19. Jahrhundert hat sich die Tonsprache der Opern ungeheuer rasant entwickelt. Gounods „Faust“ in der Version von 1869 ist der weltweit verbreitete Prototyp der Grand Opéra, mit der auch am 22. Oktober 1882 die Metropolitan Opera in New York eröffnet hat. Aus dieser Oper werden immer wieder Erfolgsarien wie Valentins Lied „Avant de quitter ces lieux“, Mephistos „Le veau dór“, Fausts „Salut, demeure, chaste et pure“ und Margretes Juwelenarie in Operngalas gespielt und auf Promotion-CDs für Künstlerinnen und Künstler veröffentlicht, weil sie überaus eingängige Melodien haben. Das hat die Verbreitung sehr gefördert. Mephistos Dämonie wird szenisch und musikalisch viel stärker ausgespielt, und das Ballett im 5. Akt, das in der Walpurgisnacht spielt, ist eine zusätzliche Attraktion. Die Urfassung von 1861 als Opéra Comique mit gesprochenen Dialogen hat Francois Xavier Roth am 21.12.2021 in Köln auf die Bühne gebracht, Wiederaufnahme ist am 3. März 2024. Gounods „Faust“ hat sich, im deutschen Sprachraum unter dem Titel „Margarete“, als Vertonung des Faust-Stoffs weltweit durchgesetzt. Das Aalto-Theater hat mit Bertins Version eine Alternative präsentiert, die deutlich kürzer ist als Gounods Werk und kein Ballett erfordert. Es würde mich nicht wundern, wenn weitere Bühnen Bertins Oper nachspielten, denn das Publikum applaudierte trotz der ungünstigen Umstände enthusiastisch, und auch mir hat die Belcanto-Oper „Fausto“ sehr gut gefallen.

Ursula Hartlapp-Lindemeyer, 4. Februar 2024

Besonderer Dank an unsere Freunde vom Opernmagazin


Fausto
Louise Bertin

Essen, Aalto Musiktheater

Premiere am 27. Januar 2024

Regie: Tatjana Gürbaca, 
Dirigat: Andreas Spering 
Essener Philharmoniker 

Trailer