Macht und Verantwortung, Ego und Milde, Ehe und freier Liebe, Toleranz und Manipulation – Themen, die die Oper in ihrer 400-jährigen Geschichte geprägt haben. Und deswegen kann Musiktheater – in Zeiten etwa der Kriege in der Ukraine oder in Gaza, von Verfolgungen im Namen der Religion – kaum aktueller sein. Deshalb spielt es mitunter überhaupt keine Rolle, ob sich eine Uraufführung um zwei Jahre verschiebt.
So wie pandemiebedingt die der „Jüdin von Toledo“, die jetzt als 14. Musiktheaterwerk von Detlef Glanert an der Dresdner Semperoper Premiere feierte. Wieder schrieb, wie schon bei „Oceane“, Glanerts schönem, elegantem Uraufführungserfolg zum Fontane-Jahr 2019 an der Deutschen Oper Berlin, Hans Ulrich Treichel den schmiegsamen, nie redundanten Text.
Es inszeniert neuerlich der weltweit gefragte Robert Carsen, wieder ist der Bariton Christoph Pohl in einer zentralen Rolle dabei. Und wieder hat der Stoff, wie schon in Glanerts „Joseph Süß“, auch etwas mit Lion Feuchtwanger zu tun.
Der verfasste in den Fünfzigern einen Roman über eine alte Legende: „Die Jüdin von Toledo“, eine Frau, die zur Zeit der Reconquista dem spanischen König Alfons VIII. den Kopf verdreht haben soll. Für diese Rahel verließ er seine Frau, lebte sieben Monate im abgeschotteten Liebesglück, dann aber gewannen die politischen Kräfte wieder die Übermacht.
Alfons ließ Rahel ermorden, verteidigte sein Königtum gegen die langsam nur zurückweichenden Mauren, verfolgte die ohnehin lang schon gejagten Juden noch mehr. Aus also der Traum von der gelebten religiösen Vielfalt Spaniens.
Die Geschichte wurde schon von Lope de Vega dramatisiert. Das Opernteam lehnt sich jetzt freilich an die Handlungsführung von Franz Grillparzers posthumer Tragödie von 1872 an, die den politisch mächtigen, finanzkräftigen Vater der beiden Schwestern Rahel und Esther eliminiert, den Konflikt zwischen privatem Glück und Machterhalt noch mehr zuspitzt. So ist ein dichter Fünfakter von zwei Stunden Dauer entstanden. Und schon in der Generalprobe scheint eigentlich klar: Der Erfolg ist auch diesmal wieder vorprogrammiert.
Es hat schon seinen Grund, dass der 63-jährige, in Berlin lebende Hamburger als einer der meistgespielten Opernkomponisten unserer Zeit gilt. Wie fein und gelassen, wie richtig in jedem Ausdrucksmoment er für Stimmen zu schreiben vermag, das hat Detlev Glanert auch jetzt wieder unter Beweis gestellt. Und man ist sofort drin in seiner üppigen, dann wieder ganz sparsamen Partitur.
Wenn als einziges außergewöhnliches Instrument die von Nassib Ahmadieh gespielte Ud, die syrisch-persische Kurzhalslaute, mit archaischem Gezupfte anhebt und einen in eine scheinbar alte Zeit führt. Die trügerische Gemeinsamkeit der Religionen soll beschworen werden. Was folgt, ist schnell unruhig-brodelnd, schneidend-entscheidungshart, weltschmerzlich-zerrissen, dann wieder intim-zärtlich.
Aufs Handwerk setzende Kunst
Man kann Detlef Glanert ruhig einen Neokonservativen nennen. Er glaubt an eine klar geprägte Erzählhaltung, setzt auf die bewährten, freilich durchaus spröde, dann wieder mitreißend spannend, immer anders eingesetzten, individuell gefärbten Musizierweisen. Genauso bekommt er aber sein Publikum. Es ist eine ehrliche, stark auf das Handwerk setzende Kunst.
Die Jonathan Darlington mit Frische am Dirigierpult klanglich auskoloriert, rhythmisch vorantreibt, opulent und leidenschaftlich auflodern lässt. Große Oper, für ein großes Haus, wo auch Halevys „La Juive“ und „Les Huguenots“ zu sehen waren. Die Modelle von Meyerbeer bis Verdi sind eben doch nicht so schlecht, auch wenn es hier keine großen Arien mehr gibt, aber durchaus tristaneske Liebeszwiegesänge und eine fantastisch gebaute Szene für die eifersüchtige, aber machtpolitisch souveräne Königin Eleonore, die sich den entfremdeten König schlussendlich zurückholt.
Wohl wissend um die Vorbilder von Fricka über Amneris bis Klytämnestra, holt Tanja Ariane Baumgartner mit stolz erhobenem Kopf und gleißendem Mezzo, im schwarzen Kleid Rächerin und Familienbewahrerin zugleich, alles raus aus ihrer Eleonore. Sie genießt die Manipulationsbrillanz und Bissigkeit dieses Charakters.
Neben der ihr Mann als besonders schwacher Herrscher im Straßenanzug schrumpft. Der reißt sich zwar zu Anfang die Krawatte weg, um den staatspolitischen Zwängen, dem Räderwerk der Hofhaltung in einer existenziell bedrängenden Situation zu entfliehen. Er lässt aber dann doch die Tötung Rahels im fatalen Versteck seines eigenen Lusthauses zu, um an der blutüberströmten Leiche ein paar Krokodilstränchen zu weinen. Bariton Christoph Pohl bringt das besondere Kunststück fertig, ausdrucksvoll und gerundet stark zu singen – und trotzdem als Jämmerling dazustehen.
Das Schicksal der Einzelnen zählt nicht
Toll tönen auch Heidi Stober als Rahel zwischen Naivität und Berechnung, rein und echt als weißgekleidete Lichtfigur bis zum tödlichen Ende und Lilly Jørstad (Esther), die zweifelnde, ängstliche, vorausahnende, dann schmerzlich tief getroffene Schwester, die sich vokal durch ihre dunkle Textur so ansprechend abhebt.
Markus Marquardt (Manrique, Graf von Lara) und Aaron Pegram (Don Garceran, dessen Sohn) sind präzise Studien geduckter Hofbeamter als ausführende Organe. Machtvoll und eindringlich trumpft der Männerchor in der großen Ratsszene auf, wo das Schicksal der Einzelnen gegenüber dem Wohl des Staates nichts gilt.
Passgenau kommen hier Musik und Szene zusammen. Denn Robert Carsen (von ihm und Kostümbildner Luis F. Carvalho ist auch das Bühnenbild) schafft es, ähnlich wie Glanert, mätzchen- wie verfremdungslos ganz dicht beim Thema zu bleiben. Er inszeniert in einem feinmaschigen Beziehungsnetz zeitlos gültige Menschen in überzeitlichen Kostümen. Und stellt sie geschickt in einen ebenfalls mehrdeutigen, dabei simplen Raum.
Der kommende Krieg
Der ist grau, mit halbhohen Säulenbögen nach hinten abgeteilt. Er fungiert mit Bänken und Schreibtisch als Verwaltungssaal, mit noch mehr versetzten Säulen aber erinnert er an die große Moschee von Cordoba, die heute als Kathedrale dient. Hier ist sie, teppichbelegt, der Ort der Liebenden.
Am Ende aber, Rahel liegt tot an der Rampe, der Thronerbe steht allein zwischen Soldaten, deren Maschinengewehre von der Kirche gesegnet wurden, da zoomt Carsen doch eindeutig ins Heute. Plötzlich haben die Soldaten einen Gebetsschal wie den Rahels übergelegt, marschieren, schießen, sterben, während auf den nüchternen Wänden in unscharf-monochromen Kriegsvideos, Armeen trampeln, Geschütze fahren, Marine, Heer und Luftwaffe Einsätze fahren.
Der kommende Krieg im mittelalterlichen Spanien mutiert zum Weltenbrand. Zum Glück (noch) nur in der Oper. Und die Ud spielt dazu ihr traurig Lied.