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Opern-Kritik: Musiktheater im Revier Gelsenkirchen – Iolanta / Le rossignol

Vom Zauber des Sehens und Hörens

(Gelsenkirchen, 24.2.2024) Tschaikowskys letztes Werk für das Musiktheater und Strawinskys Oper im Turbo-Format eint der Lobpreis auf die mit allen Sinnen zu erfahrende Natur.

vonMichael Kaminski,

Märchenhaft geht es zu in diesem Operndoppel. Keineswegs aber harmlos. Tschaikowskys letztes Werk für das Musiktheater und Strawinskys Oper im Turbo-Format eint der Lobpreis auf die mit allen Sinnen zu erfahrende Natur. Sehen und Hören sind nicht allein rein physische Vorgänge, sie müssen vielmehr mental gewollt sein. Prinzessin Iolanta scheint es an nichts zu fehlen. Sie lebt wie im Paradies. Blumendüfte umgeben sie, Amme und Gespielinnen erfüllen jeden ihrer Wünsche. Nur die Augen stören, ein – wie Iolanta vermutet – nutzloses Organ, das allein zum Weinen dient.

Dass ihr Vater König René sie in diesem künstlichen Paradies absondert, um die Blindheit der Prinzessin vor der Welt zu verhehlen und Zeit für die Heilung zu gewinnen, bleibt ihr verborgen. Der König begreift Therapie zunächst als nichts denn mechanische Operation, zu deren Erfolg lediglich die kompetentesten Fachkräfte heranzuschaffen sind. Der Herrscher ist bei Regisseurin Tanyel Sahika Bakir unter steter Sorge um das Wohlergehen und die Heilung der Tochter zum Tyrannen geworden. Das vermeintliche Paradies ist in Wahrheit Festung und Gefängnis, in dem schwerbewaffnete Sicherheitskräfte ohne Rücksicht auf Verluste Menschenleben auslöschen. In Wahrheit sitzt Iolanta wie ein Vogel im Käfig. Die fürsorgliche Belagerung durch Vater und Personal tilgt jeden Wunsch nach Erfahrung und Entdeckung.

Szenenbild aus „Iolanta“ am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen
Szenenbild aus „Iolanta“ am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Fragen bleiben offen

Zwar lässt Regisseurin Bakir den König schließlich die Bedeutung des seelischen Anteils am Genesungsprozess begreifen, der Monarch verbindet aber damit weder edle noch lautere oder gänzlich reine Absichten. Freilich ohne dass klar wird, welche Pläne er konkret verfolgt. Final zielt René jedenfalls mit der Schusswaffe auf den soeben von ihm huldvoll akzeptierten Freier der Tochter. Doch legt auch dieser auf ihn an. Auge in Auge stehen sich Vater und Bräutigam gegenüber. Ob einer der beiden schießen wird, bleibt offen, weil der Eiserne Vorhang sich senkt. Bühnenbildnerin Julia Schnittger begreift ihn als eine der Wände des Gefängnisses. Seiner Konvexität entspricht die konkave Einfassung der Spielfläche mit einer Betonmauer.

Inmitten der Fortifikation liegt das mit dichter Fauna bestückte und vom Personal immerfort gehegte und gepflegte Blumeninselchen für die Titelfigur. Hedi Mohrs Kostüme zeigen sich uniform und martialisch. Einzig Iolanta darf ein verspieltes Kleid tragen. Heejin Kim wächst in der Titelpartie alsbald zu großer Form auf. Ebenso lyrisch wie durchsetzungsfähig porträtiert sie eine junge Frau, deren Selbstbewusstsein mit dem Ziel, sehen zu wollen, erwacht. Philipp Kranjc ist ein bassmächtiger und durchschlagskräftiger René. Mit schöner Emphase verkörpert Khanyiso Gwenxane den Gottfried Vaudemont.

Szenenbild aus „Le rossignol“ am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen
Szenenbild aus „Le rossignol“ am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Wer nicht hören will, muss sterben

In Strawinskys „Le rossignol“ entfremdet der chinesische Kaiser sein Gehör der Natur, um sich dem Gesang einer automatischen Nachtigall hinzugeben. Verbannt und vergessen ist der vom technischen Wunderwerk nachgeahmte Singvogel. Doch anders als der Automat ist die Nachtigall aus Federn, Fleisch und Blut zur Empathie begabt. Regisseurin Kristina Franz lässt den Singvogel zunächst unbändig temperamentvoll durch die Welt flattern. Eine wahre Kameradin, die loyal und hilfsbereit, wie sie nun einmal ist, sogar dem Kaiser eins vorsingt. Der aber sucht nicht Entzücken an der Natur und Freundschaft, sondern bloßes Entertainment. Dazu genügt ihm ein Automat. Geht es indes ans Sterben, bietet allein von Mensch und Tier gemachte Musik Trost. Der Wildfang von Nachtigall, sonst vor Lebenslust kaum zu bremsen, leidet mit dem sterbenskranken Kaiser und sucht dem Tod Aufschub abzuringen. Der aber ist – wie schon bei der Uraufführung des Werks im Jahr 1914 – unter den Händen von Puppenspielern vom Wicht zum mächtigen Popanz aufgewachsen, um zu holen, wer immer sich ihm darbietet.

Eingebettet ist dies alles in das skurrile Treiben der Schranzen am chinesischen Kaiserhof. Um Chinoiserie zu erzeugen, mutiert daher Julia Schnittgers erstaunlich wandlungsfähige graue Riesenmauer zu einem Häusergeviert mit fernöstlichem Schnitzwerk und Lampions. In solcher Umgebung ist Lisa Mostin eine koloraturfertige Nachtigall. Selbst Stratosphärentöne lässt Mostin wie selbstverständlich aus der Gesangslinie hervorgehen. Adam Temple-Smith gibt der Sehnsucht des Fischers nach dem Nachtigallenschlag Ausdruck. Für den Kaiser bietet Urban Malmberg seinen hellen Bariton auf.

In beiden Opern motiviert Alexander Eberle den Chor des Hauses zu Klangpracht und Transparenz. Unter Rasmus Baumann weiß sich die Neue Philharmonie Westfalen in die unterschiedlichen Fakturen Tschaikowskxs und Strawinskys einzufinden.

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen
Tschaikowsky: Iolanta / Strawinsky: Le rossignol

Iolanta: Rasmus Baumann (Leitung), Tanyel Sahika Bakir (Regie), Julia Schnittger (Bühne), Hedi Mohr (Kostüme), Patrick Fuchs (Licht), Alexander Eberle (Chor), Hejin Kim, Philipp Kranjc, Khanyiso Gwenxane, Simon Stricker, Petro Ostapenko, Benedict Nelson, Almuth Herbst, Alfia Kamalova, Hyejun Melania Kwon, Ju Hyeok Lee

Le rossignol: Rasmus Baumann (Leitung), Kristina Franz (Regie), Julia Schnittger (Bühne), Hedi Mohr (Kostüme), Jonathan Gentilhomme (Puppen), Patrick Fuchs (Licht), Alexander Eberle (Chor), Lisa Mostin, Alfia Kamalova, Adam Temple-Smith, Urban Malmberg, Philipp Kranjc, Oliver Aigner, Almuth Herbst, Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma, Maximilian Teschemacher, Johannes Mang, Petro Ostapenko, Ju Hyeok Lee, Opernchor und Damenextrachor des Musiktheater im Revier, Neue Philharmonie Westfalen

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