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„Dora“ in Stuttgart – Sondern etwas anderes

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Sieht seltsam aus, aber es ist eindeutig die Welt von Dora.
Sieht seltsam aus, aber es ist eindeutig die Welt von Dora. Foto: Martin Sigmund © Martin Sigmund

Auswege aus der Langeweile des Daseins: Die prächtige Uraufführung von „Dora“ in Stuttgart, einer Oper von Bernhard Lang und Frank Witzel.

Am Anfang so ein Donnerschlag, dass man dabei zuschauen kann, wie die Menschen auf ihren Plätzen hochfliegen. Am Ende auch wieder, wie in einer Rückwärtsbewegung. Dabei hat sich doch in den vergangenen zwei Stunden einiges getan. Hat sich in den vergangenen zwei Stunden einiges getan? Das zum Beispiel ist die Frage.

Drei Schlagwerken im Rang, links, rechts, hinten, gehören jedenfalls die ersten und letzten Minuten einer spektakulären Uraufführung an der Staatsoper Stuttgart. Dahinter und davor Spuren von „Götterdämmerung“, eigentlich keine Spuren, sondern ziemlich deutliche Zitate, Weltende- und Erlösungszitate, sofort unwiderstehlich. Zu schade, dass Dora selbst, die an der Langeweile des Lebens verzweifelt, das nicht hören kann. Ihr kleiner Bruder, der zornige Schüler – mit einem überdimensionalen gelben Heftchen vom „Urfaust“ in Händen –, wird nachher haargenau wie Jung-Siegfried seinem Freiheitsdrang Lauf lassen.

„Dora“ durchzieht ein Netz von Zitaten, „Elektra“, „Schöne Müllerin“, Gounods „Faust“, die Zitate sind unverblümt und schlau eingebaut, süße Momente in einem sicher durchstrukturierten, aber zwanglos und unkonventionell wirkendem musikalischen Feuerwerk. Die vertraute Tonalität der Zitate steht dabei nicht in einem Kontrast zur neuen, markanten, gelegentlich raufboldigen Musik. Nichts wird gegeneinander ausgespielt, sondern (!) so miteinander verbunden, dass die Klangwelt farbenreicher wird, viel farbenreicher.

Der Österreicher Bernhard Lang hat das komponiert, das Libretto ist von Buchpreisträger Frank Witzel, angesichts des quirligen Abends wird man sich einen fabelhaften Austausch vorstellen dürfen. Dass Lang, Jahrgang 1957, und Witzel, Jahrgang 1955, von einer Mittzwanzigjährigen erzählen, hat Flaubertsches Format. Witzel zitiert das im Vorabgespräch auch gleich, natürlich ironisch, „Madame Bovary, c’est moi“. Er gibt dem Libretto und Dora selbst viel von der seinem Schreiben eigenen lakonisch gewitzten Art mit, in diesem Fall der lakonisch gewitzten Verärgerung angesichts der von Dora scharf empfundenen Sinnlosigkeit des (unheldischen, unmythologischen) Daseins. Sie lacht nicht, das Publikum schon.

Trotz zarter Andeutungen – kein Job, kein Geld, und die Gegend, in der Dora noch immer bei ihren Eltern wohnt, ist auch nicht schön – suchen Witzel und Lang keine aktuelle Anbindung. Alles ist abstrakt. So handhaben es auch Regisseurin Elisabeth Stöppler und Ausstatter Valentin Köhler, die eine weiße Wand und hinter ihr ein helles Gestänge skurril beleben mit Symbolen und Buchstaben: eine unrealistische, aber irgendwie permanent sinnfällige Zeichenwelt. Doras Alptraum ist unsere Freude.

Dora, die sehr unzufrieden ist und alles satt hat, sich langweilt, aber nicht mehr pubertär, sondern substanziell, will kurzerhand einen Teufelspakt eingehen. Da der Teufel aber zunächst auch bloß ein Langeweiler ist, erkennt sie ihn gar nicht. Auch die Möglichkeit der Liebe erkennt sie vorläufig nicht. Erst der Suizidversuch des bis dato glücklos in sie verschossenen Berthold leitet eine mögliche Veränderung ein. Sie ist so verkopft wie apart und entzündet sich an der Konjunktion „sondern“. Hinten stellt der kleine, antikisch kommentierende Chor sie aus den Bühnenbuchstaben zusammen, vorne greift der durch seinen Suizidversuch schwer beschädigte Berthold sie auf. Er nimmt die Silben auseinander, setzt sie wieder zusammen, ein Monolog, ein Kabinettstück. Könnte doch sein, dass das alles eben nicht nur sinnlos ist, sondern auch der Anfang von etwas anderem, der Geschichte von Dora und Berthold. „Sondern“ als eine Art symbiotischeres, weniger konfrontatives „Aber“.

Große Stimmen, durchweg großartige Figuren: Dora ist die junge Josefin Feiler, deren jugendlicher, jedoch keineswegs zarter Sopran vor Energie bersten könnte, aber sie ist zugleich auch sehr cool und beherrscht. Ihr zentraler Gegenspieler, der Teufel von Marcel Beekman, lässt seinen Tenor tüchtig gellen. Elliott Carlton Hines ist der zartbesaitete Berthold, der im Damenkleid nachher in der als Shakespeareheld verkleideten Dora seine Retterin erwarten darf. Die geradezu manischen Garderobenwechsel: auch sie Zeichen über Zeichen, Möglichkeiten über Möglichkeiten, und außer Dora wird sich hier wirklich niemand langweilen. Kompakt und trefflich der achtköpfige Solistenchor, ein individuelles Trüppchen auch er. Das durch zwei Synthesizer ergänzte kleine, aber schlagkräftige Orchester wird von Elena Schwarz souverän durch den Trubel geführt.

Am Ende ein großer Jubel für alle und jeden. „Dora“ macht es einem Publikum nicht schwer, aber die Staatsoper hat die Unternehmung auch hervorragend vorbereitet, angefangen mit der Plakataktion „Who the hell is Dora“. Das könnte in den privaten Schatz der Redewendungen übergehen.

Staatsoper Stuttgart: 8., 15., 22. März, 1., 4. April. www.staatsoper-stuttgart.de

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