Auf der Bühne ist es noch dunkel. Man sieht nichts. Aber was man hört, nimmt einen sofort in Bann: leise, geheimnisvolle, ungewohnte Klänge und Geräusche von überall her. Vom Orchestergraben her natürlich, aber auch von den Seiten, von hinten und von oben. Und diese Klänge scheinen zu wandern, nähern und entfernen sich. Auf der Bühne sind allmählich, durch einen transparenten Vorhang hindurch, schemenhafte Projektionen zu erkennen. Dann treten im Vordergrund zwei Sprecher auf, die sich an das Publikum wenden. „Nicht verzweifeln, auch darüber nicht, dass du nicht verzweifelst“, sagt der eine. „Die alte Welt versinkt, unwiderruflich“, schreit der andere. Plötzlich taucht in der Ferne die neue Welt auf, der Hafen von New York. Da darf natürlich auch die Freiheitsstatue nicht fehlen. Doch sie ist hier eine Göttin und hält statt einer Fackel ein Schwert in der Hand.

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Amerika
© Herwig Prammer

Dem Schiff entsteigt, neben anderen ausreisewilligen Europäern, auch der siebzehnjährige Karl Rossmann, der zu Hause eine Dienstmagd geschwängert hat. Nun versucht er sein Glück in Amerika. Als er seinem reichen Onkel Jakob begegnet, scheint der Start geglückt zu sein. Doch der zwielichtige Herr Pollunder, ein Geschäftspartner des Onkels, überredet Karl zu einer Reise auf sein Landgut. Dort wird er von Pollunders Tochter Klara in Beschlag genommen. Die Rückkehr zum Onkel ist nicht mehr möglich, und von da an nimmt Karls Reise immer unwirklichere Dimensionen an. Er schließt sich zwei Landstreichern und einer ehemaligen Operndiva an, arbeitet in einem Hotel als Liftjunge und wird am Ende als Statist im „Großen Naturtheater von Oklahoma“ angeheuert.

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Amerika
© Herwig Prammer

Roman Haubenstock-Ramatis Oper Amerika fußt auf dem Romanfragment Der Verschollene (von Max Brod als Amerika herausgegeben) von Franz Kafka. Es handelt sich dabei um eines der experimentellsten und aufwändigsten Musiktheaterstücke überhaupt. Nach der Uraufführung im Jahr 1966 an der Deutschen Oper Berlin wurde Amerika bisher erst zweimal nachgespielt: 1992 in Graz und 2004 in Bielefeld. Nun hat das Opernhaus Zürich, nach weiteren zwanzig Jahren, das Wagnis unternommen, die weltweit erst vierte Produktion des Stücks zu zeigen. Dass sie gerade im Kafka-Jahr 2024 stattfindet, ist der Corona-Pandemie geschuldet, war doch die Produktion bereits für 2021 geplant. Nach der Premiere darf man sagen, dass sich das Risiko gelohnt hat. Wer dabei war, durfte das Erlebnis mit nach Hause nehmen, einem der spannendsten Musiktheaterstücke eines heute leider weitgehend vergessenen Komponisten des 20. Jahrhunderts beigewohnt zu haben.

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Robert Pomakov (Pollunder) und Paul Curievici (Karl Roßmann)
© Herwig Prammer

Das Resultat ist zuallererst dem Dirigenten Gabriel Feltz zu verdanken. Haubenstock-Ramatis Partitur ist in einer graphischen Notation aufgezeichnet. Sie besteht also nicht aus herkömmlichen Noten auf fünf Linien, sondern aus einer Art von Zeichnungen, die das gewünschte Klangresultat nur approximativ umreißen. Auch die Zeitgestaltung des Komponisten lässt viele Möglichkeiten offen. Die Arbeit des Dirigenten beschränkt sich somit keineswegs auf das „Taktschlagen“, sondern er wird quasi zum Mitkomponisten, indem er aus den angebotenen Möglichkeiten der Partitur die ihm passenden auswählt.

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Amerika
© Herwig Prammer

Erschwerend kommt dazu, dass neben dem realen Orchester im Graben – der topmotivierten und glänzend vorbereiteten Philharmonia Zürich – noch drei weitere Orchester erklingen, die im Voraus aufgenommen und über unzählige Lautsprecher wiedergegeben werden. Dazu gesellen sich etliche Sprechchöre; sie basieren auf Aufnahmen, die 2004 für das Theater Bielefeld entstanden sind. Alle diese vokalen und instrumentalen Elemente werden vom Klangregisseur Oleg Surgutschow derart kombiniert und ausgesteuert, dass sich ein umwerfender Surround-Sound einstellt. Es ist wie im Kino.

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Amerika
© Herwig Prammer

Regisseur Sebastian Baumgarten, ein bekennender Brechtianer, zeigt Haubenstock-Ramatis Oper als Reise in einem kafkaesken Labyrinth. Dabei bringt er nicht nur Düsteres und Endzeitliches, sondern auch Schrilles, Groteskes und Fantastisches auf die Bühne. Die Ausstatterin Christina Schmitt zeigt dazu bald realistische (den Schiffsbauch bei Karls Ankunft), bald abstrakte (Pollunders Landhaus), bald groteske Bilder (das Naturtheater als eine Art von Disneyland). Ein Eigenleben, parallel zur Handlung, spielt sich in der Lichtregie von Elfried Roller und in den Videos von Robi Vogt ab. Eine weitere Schicht bilden die pantomimischen Einlagen einer Streetdance-erprobten Tänzergruppe. Der Regisseur lässt das Mehrgleisige, Disparate und manchmal Absurde nebeneinander stehen, deutet nicht vorschnell. Sein Amerika ist ein Fantasieland, in dem die Freiheit zu einer Karikatur der Justitia geworden ist. Gelegentlich spielt Baumgarten an die Sechziger Jahre an, meidet aber, sogar in der Fernsehrede des Wahlkandidaten, Anspielungen an aktuelle Ereignisse meidet. Wohltuend.

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Sebastian Zuber (Wahlkandidat) und Paul Curievici (Karl Roßmann)
© Herwig Prammer

Betreffend sängerisches Personal besteht die Eigenart der Oper darin, dass sieben Sängerinnen und Sänger insgesamt sechzehn Rollen darstellen. Nur eine einzige Rolle, nämlich die Hauptfigur, interpretiert der Tenor Paul Curievici. Sein Karl Rossmann besitzt genau die richtige Mischung von Naivität, Neugier und Stehaufmännchen-Charakter. Robert Pomakov dagegen leiht seinen imposanten Bass gerade drei Rollen: dem Heizer auf dem Schiff, dem Geschäftsmann Pollunder und dem Landstreicher Robinson.

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Mojca Erdmann (Klara) und Paul Curievici (Karl Roßmann)
© Herwig Prammer

Ein musikalisches und darstellerisches Glanzlicht setzt der Aufführung die Sopranistin Mojca Erdmann auf, die die beiden Frauenrollen Klara und Therese als sexuell dominierende Gestalten realisiert. Eine tragikomische Figur ist die Brunella von Allison Cook. Als abgehalfterte Operndiva lebt sie einer gewaltgeprägten Beziehung zum Landstreicher Delamarche (Georg Festl) und wird von diesem im Bad ertränkt. In komischen Rollen sind der Bass-Bariton Ruben Drole und die Altistin Irene Friedli zu erleben.

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Allison Cook (Brunelda) und Georg Festl (Delamarche)
© Herwig Prammer

Wie Kafkas Romanfragment endet auch Haubenstock-Ramatis absurdes Theaterstück mit einem offenen Schluss. Ist das Große Naturtheater von Oklahoma, in dem Karl aufgenommen wird, das Ziel seiner Reise? Ist er dort glücklich? Ist es sein Himmel oder seine Hölle? (Der Himmel und die Hölle, lautet die Überschrift der 25. Szene.) In einer kitschigen Winterlandschaft mit verschneiten Tannen bewegt ein Engel einen Bethlehemstern, eine als Maria verkleidete Frau bettet eine Jesus-Puppe, ein grotesker König spendet Beifall – und Karl stülpt sich die Maske des Esels über. Was soll denn dies, ums Himmels Willen, bedeuten? „Nicht verzweifeln, auch darüber nicht, dass du nicht verzweifelst“, kommentiert der Sprecher, bevor der Vorhang fällt.

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