Bayerische Staatsoper: „Die Passagierin“ -Premierenbericht-

Bayer. Staatsoper/DIE PASSAGIERIN/Foto © Wilfried Hösl

„Wenn eines Tages eure Stimmen verhallt sind, dann gehen wir zugrunde.“

Martas Schlussworte Mieczysław Weinbergs Oper Die Passagierin sind heute brisant wie nie: Fast achtzig Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur können nur noch wenige Zeitzeug:innen ihre Geschichten selbst erzählen. Die Erinnerung an das Geschehene zu wahren und die Stimmen der Toten und Überlebenden nicht verhallen zu lassen, liegt mehr als je zuvor in der Verantwortung der ganzen Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund inszeniert Tobias Kratzer das Stück als eine Geschichte über Erinnerung und Schuld – aus einer heutigen Perspektive. (Rezension der Premiere v. 10.03.2024)

 

Die Erinnerung an die Shoa und die Schuld der Täter:innen sind Kernthemen von Weinbergs Oper Die Passagierin. Erzählt wird die Handlung aus der Perspektive der ehemaligen SS-Aufseherin Lisa. Auf einem Schiff begegnet sie einer Frau, die sie an Marta erinnert, eine Insassin des Vernichtungslagers Auschwitz. Die Begegnung mit der vermeintlichen Marta zwingt Lisa dazu, Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs ihre eigentlich verdrängten Erinnerungen erneut zu durchleben und sich mit ihrer eigenen Schuld auseinanderzusetzen. Die Darstellung dieses inneren Konflikts gelingt Kratzer vor allem in der zweiten Hälfte des Abends hervorragend. Lisas Erinnerungen daran, wie sie als Aufseherin in Auschwitz verzweifelt versucht, die Anerkennung und sogar die Liebe der Häftlinge, insbesondere Martas zu gewinnen, und wie sie in der Gegenwart der 50er Jahre dann gar nicht versteht, warum sie die nicht bekommen hat, laufen im schnellen Wechsel. Dabei präsentiert Tobias Kratzer die Figur sehr menschlich und sehr nachvollziehbar, doch Mitleid mit ihr hat man nie. Kratzer, wie auch die großartige Sophie Koch als Lisa, lassen keinen Zweifel daran, dass Lisa eine Täterin ist und sich schuldig gemacht hat, auch wenn ihr Selbstbild verzerrt ist: Lisa meint, sie habe nur ihre Pflicht getan, sei zu den Häftlingen sogar gut gewesen. Die Gefahr, dass das Publikum mit der Täterin sympathisiert, ist natürlich trotzdem gegeben. Das liegt aber am Werk, das nun einmal aus Lisas Sicht erzählt, nicht an der Regie. Die hat einen guten Umgang mit ihrer Vorlage gefunden.

Bayer. Staatsoper/DIE PASSAGIERIN/Foto © Wilfried Hösl

Die erste Hälfte des Abends aber gerät ein wenig holprig. Den beiden Zeitebenen, die sich in der Oper gegenüberstehen – den 50er Jahren, in denen Lisa mit ihrem Mann den Atlantik überquert, um Abstand von ihrer Vergangenheit zu gewinnen, und den 40er Jahren in Auschwitz – fügt Kratzer in seiner Inszenierung eine dritte Ebene hinzu: Die heutige Zeit, das Jahr 2024. Eine gealterte Lisa, gespielt von Sibylle Maria Dordel, befindet sich wieder auf einem Schiff. Die Wand des Kreuzfahrtschiffes hat Ausstatter Rainer Sellmaier fast in Originalgröße auf die Bühne des Nationaltheaters gebaut. Beide simultanen Erzählebenen der Oper, Lisas Schiffsreise in den 50er Jahren und ihre Zeit in Auschwitz, werden als Erinnerungen dieser alten Lisa erzählt. Eine doppelte Distanz zu Auschwitz, sozusagen. Stellenweise funktioniert das auch sehr gut und Kratzer gelingen einige beeindruckende Momente, etwa als Dordel als alte Lisa ganz allein auf dem Balkon eines Kreuzfahrtschiffes steht und aus den umliegenden Kabinen nicht nur die Stimme des Kapos, sondern auch ihre eigene Antwort auf die Befehle hört – unsichtbar gesungen von Sophie Koch. Mitunter scheint es aber, als habe Kratzer die Einbindung seiner neuen Zeitebene nicht ganz zu Ende gedacht. Die meiste Zeit läuft die alte Lisa in ihrer Kabine auf dem Schiff hin- und her, zuckt gelegentlich zusammen oder umklammert die Urne mit den sterblichen Überresten ihres Mannes, die sie aus irgendeinem Grund mit sich führt. Aus der Nähe mag Dordels Schauspiel differenzierter wirken, in den hinteren Parkettreihen wirkt die Bühnenaktion bald repetitiv und bietet kaum Mehrwert. Auch die Absicht der Inszenierung von Lisas Suizid am Ende des ersten Aktes ist nicht klar erkennbar. Zu Beginn der zweiten Hälfte sieht man in der Videoprojektion Manuel Brauns noch kurz ihren Körper unter Wasser schweben, wie um zu zeigen, dass auch dieser Akt noch die Erinnerung dieser alten Lisa ist, oder um das Publikum zunächst daran zu erinnern, dass Lisa jetzt tot ist, um dann zu zeigen, dass ihre Schuld aber trotzdem immer noch besteht. Wie denn auch sei – die beiden Akte werden nicht optimal zu einem Gesamtbild verknüpft.

Dabei steckt hinter der neuen, stummen Figur eigentlich eine interessante Idee: Kratzer möchte nicht die Erinnerung an Auschwitz inszenieren, sondern den Prozess des Erinnerns und Verdrängens – eben Erinnerung und Schuld aus einer heutigen Perspektive. Diese doppelte Distanz zu Auschwitz ist neu in der Rezeptionsgeschichte von Die Passagierin. In früheren Inszenierungen des Werks wurde sogar meist versucht, das Konzentrations- und Vernichtungslager durch Bühnenbild, Kostüm und Maske abzubilden. Auch davon distanziert sich das Team um Kratzer ganz bewusst. Im Programmheft zur Inszenierung äußert sich der Regisseur, dass solche Darstellungen nur deshalb möglich waren, weil bei den Premieren die Autorin der autobiografischen Romanvorlage, die polnische Journalistin und Shoah-Überlebende Zofia Posmysz, persönlich anwesend war und das Publikum die Vorstellungen und Posmysz‘ Geschichte mit ihr gemeinsam rezipieren konnte. Posmysz starb 2022 im Alter von fast 99 Jahren, die Münchner Neuinszenierung ist die erste Premiere von Die Passagierin nach ihrem Tod. Die Frage, wie man an die Shoah erinnert, wenn beinahe keine Zeitzeug:innen mehr am Leben sind, betrifft die Produktion damit unmittelbar.

Bayer. Staatsoper/DIE PASSAGIERIN/Foto © Wilfried Hösl

Kratzer hat sich in seiner Inszenierung des Erinnerns nun also für Distanz entschieden und gegen die Darstellung von Auschwitz. Trotzdem gibt es keinen Platz für Missverständnisse. Der Text verschweigt nichts. Kratzer und Sellmaier finden außerdem andere und starke Bilder, um Lisas Erinnerungen auf der Bühne darzustellen. Schon der erste Akt auf dem Kreuzfahrtschiff ist in dieser Hinsicht sehr wirkmächtig, in Erinnerung bleibt aber vor allem der zweite. Statt der Baracken von Auschwitz hat Sellmaier einen Bankettsaal auf die Bühne gestellt. Darin bewegen sich sechs Frauen in identischen, dunklen Kleidern. Für den Raum sind es viel zu wenig Menschen. Fast alle Stühle bleiben leer. Dadurch wird spürbar, wie viele Menschen ermordet wurden, nicht mehr da sind. Innerhalb kurzer Zeit werden auch die noch Lebenden getötet: Sophie Wendt ruft als Oberaufseherin aus dem Off die Nummern der Inhaftierten, die daraufhin eine nach der anderen zusammensacken. Inmitten der bedrückenden Szene wendet sich Evgeniya Sotnikova als die Inhaftierte Yvette an das Publikum und singt, die vierte Wand brechend: „Bitte vergesst uns nicht!“. Das ist einer der ausdrucksstärksten Momente des Abends, vor allem deshalb, weil beinahe unmittelbar danach Statisterie und Chor den bis dahin beinahe leeren Bankettsaal füllen: Lisas Mitreisende der 50er Jahre treffen sich zum Tanz. Es gibt Wunderkerzen und eine funkensprühende Torte wie in den Schlussszenen im Traumschiff. Kratzer zeigt auf diese Weise die Verdrängung des Grauens in der Nachkriegszeit, der Lisas Ehemann Walter, ein deutscher Diplomat, Worte verleiht: „Jeder hat das Recht, den Krieg zu vergessen.“ Doch auf den Tischen liegen noch die Leichen der in Auschwitz ermordeten Frauen und mitten in der Menschenmenge steht noch Marta, die Lisa und das Publikum daran erinnert, dass eigentlich niemand ein Recht hat, den Krieg und die Gräueltaten der Nationalsozialisten zu vergessen.

Marta ist ohne Frage die spannendste Figur der Inszenierung. Kratzer hat auch sie, die man in einem anderen Setting wohl als Lisas Gegenspielerin bezeichnen würde, durch und durch menschlich gestaltet. Sie ist ein Individuum, hat eigene Wünsche und Hoffnungen, sie leidet, wenn Lisa sie malträtiert, sie erlebt viele Emotionen irgendwo zwischen Todesangst und Freude, als sie ihren Verlobten Tadeusz in Auschwitz trifft. Und doch, das zeigt sich in Kratzers Personenregie, ist sie auch Lisas idealisierte und gewissermaßen dämonisierte Erinnerung. Oft ist sie zu gefasst, beinahe schon erhaben, für einen echten Menschen, vor allem bei der Ermordung Tadeusz‘ vor ihren Augen. In dieser Szene ist es Lisa, die ihre Fassung verliert. Marta kann das gar nicht. Sie ist Teil von Lisas Gewissen, ein Symbol ihrer Schuld. Die letzten Verse der Oper singt sie sie hinter einer Leinwand, über einem Video einer Meeresoberfläche wird der gesungene Text noch einmal eingeblendet. So gehen die Schlussworte direkt an das Publikum und Marta wird auch das Gewissen der Zuschauer, das warnt, die Stimmen der Zeitzeug:innen nicht verhallen zu lassen.

Bayer. Staatsoper/DIE PASSAGIERIN/Foto © Wilfried Hösl

Marta singt auf Polnisch, Lisa auf Deutsch. Komponiert wurde die Passagierin eigentlich auf Russisch. Aber diese Sprache kommt auf der Bühne nicht vor. Auch Änderungen am Text sind Teil der Überlegungen der Staatsoper, wie man Posmysz‘ Geschichte nach ihrem Tod aufführt. Alles, was nicht in Posmysz Buch vorkommt, wurde gestrichen. Das trifft große Teile der Chöre, die mitunter sehr programmatische Texte singen, sowie die die Figur der russischen Partisanin Katja. Beides wurde vom Librettisten der Passagierin, Alexander W. Medwedew, in den Augen des Münchner Produktionsteams in Hinblick auf die sowjetische Aufführungspraxis und Zensur hinzugefügt. Insgesamt fehlen ziemlich viel Text und Musik, die Münchner Aufführung ist gut eine halbe Stunde kürzer als andere Produktionen der Passagierin. Außerdem wird das Werk, wie schon vor einigen Jahren in Graz, eben nicht auf Russisch, sondern mehrsprachig gegeben. Neben der für München noch einmal neu angefertigten multilingualen Fassung ist das Libretto der Oper im Programmbuch auf Polnisch abgedruckt. Posmysz‘ Lebensleistung soll so gewürdigt werden, außerdem soll ein Kontrast zur Tätersprache Deutsch entstehen, heißt es im Programmbuch. Schade ist, dass Medwedew auch durch das Fehlen seiner Originalversion des Textes so weit in den Hintergrund rückt, dass er nicht einmal mehr auf dem Besetzungszettel als Librettist der Oper erwähnt wird. Aber: Das neue Sprachkonzept, wie auch die umfassenden Kürzungen, gehen auf der Bühne wunderbar auf. In der Handlung gibt es keine Lücken, die beim Ansehen der Inszenierung sofort ins Auge fielen, und auch musikalisch entsteht ein harmonischer Gesamteindruck.

Zu verdanken ist das vor allem Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski, dessen Dirigat den Abend höchst souverän zusammenhält. Nicht nur in Bezug auf die Kürzungen, sondern auch auf die verschiedenen Musikstile, die in Weinbergs Passagierin vorkommen. Von fast schon jazzigen 50er-Jahre-Rhytmen, zu dem harten Paukenmotiv, das für das Töten in Auschwitz steht, zu ganz zarten Augenblicken, zum Lieblingswalzer des Lagerkommandanten. Letzterer ist sowieso Jurowskis Meisterstück an diesem Abend: Einerseits ist das Motiv so leicht und schwungvoll, wie es Unterhaltungswalzer nun einmal sind, andererseits beeindruckend kalt. Jurowski gelingt es, dass einem das Stück trotz aller Einfachheit schwer im Ohr liegt. Auffällig ist, dass Jurowski das Orchester im Laufe des Abends immer hinter den Sängern zurückstecken lässt. Gelegentlich regelt er die Lautstärke sogar schlagartig nach unten, sobald Gesang einsetzt. Das ist mitunter gewöhnungsbedürftig, aber doch sinnvoll: In dieser Oper sind die Stimmen der Darsteller:innen und das, was sie zu singen haben, unglaublich wichtig, nicht erst bei Martas Schlussworten. Und tatsächlich zeigen sich alle Sänger:innen der Herausforderung des Werks mehr als gewachsen. Charles Workman gibt Walter, Lisas Ehemann, nicht zu dramatisch, sondern dem deutschen Diplomaten angemessen trocken, Jacques Imbrallo überzeugt als Tadeusz. Daria Proszek, Lotte Betts-Dean, Noa Beinart, Larissa Diadkova und Evgeniya Sotnikova geben Martas Mithäftlinge berührend menschlich. Sophie Koch singt die Lisa mit derselben Intensität, in der sie spielt – absolut großartig. Elena Tsallagova als Marta ist mit viel Verletzlichkeit, aber auch Strahlkraft und Stärke im Ausdruck das Ereignis des Abends.

Es ist nicht nur Kratzers exzellenter Personenführung, sondern auch dem großartigen Ensemble zu verdanken, dass die Vorstellung im Nationaltheater unter die Haut geht. Natürlich: Die heutige Perspektive, aus der Kratzer erzählen will, entsteht vor allem durch den Blick des heutigen Publikums, nicht durch die von ihm neu eingeführte dritte Zeitebene auf der Bühne. Wie viel Erinnerungsarbeit eine trotz der Erfahrungen der Autorin Zofia Posmysz immer noch fiktive Handlung, die aus der Sicht einer Täterin erzählt wird, leisten kann, müssen die Menschen für sich selbst entscheiden. Kratzers Inszenierung ist trotz aller Verfremdung immer noch in erster Linie Lisas und Martas sehr individuelle Geschichte. Aber: Der Abend wirkt. Denn er regt zum Nachdenken an. Über Erinnerung, über Schuld und über die Möglichkeiten von Theater.

 

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