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Die Passagierin

Oper in zwei Akten (acht Bildern) und einem Epilog
Libretto von Alexander Medwedew nach der gleichnamigen Novelle von Zofia Posmysz
Musik von Mieczysław Weinberg

in deutscher, polnischer, französischer, tschechischer, jiddischer, russischer und englischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 3h 15' (eine Pause)


Kooperation mit dem Opernhaus Graz
Premiere im Großen Haus des Staatstheaters Mainz am 19. Januar 2024
(rezensierte Aufführung: 17. März 2024)

Logo: Staatstheater Mainz

Staatstheater Mainz
(Homepage)
Eine grandiose Oper gegen das Vergessen

Von Stefan Schmöe / Fotos von Andreas Etter

Die Kunst, das unfassbar Schreckliche zu verdrängen, führt in diesen Tagen Jonathan Glazers oscarprämierter Spielfilm The Zone of Interest bestürzend vor Augen. Dort endet das persönliche "Interessengebiet" der Täterinnen und Täter an der Mauer von Auschwitz, allem besseren Wissen und dem beißenden Geruch der Krematorien zum Trotz. Das Phänomen des Verdrängens hat auch der jüdisch-polnische, die meiste Zeit in Russland lebende Komponist Mieczysław Weinberg (1919 - 1986) in seiner Oper Die Passagierin aus dem Jahr 1968 hinterfragt - mit sehr viel konventionelleren künstlerischen Mitteln, aber dafür mit der emotionalen Wucht des Musiktheaters. Die verspätete Uraufführung (konzertant 2006 in Moskau, szenisch 2010 bei den Bregenzer Festspielen) hat der Komponist nicht mehr erlebt, und auch nicht die rasche Verbreitung an anderen Bühnen.

Vergrößerung in neuem Fenster Lisa (Mitte) glaubt, in einer Mitreisenden eine Inhaftierte aus Auschwitz zu erkennen. Gatte Walter wusste bis dahin nichts von der Vergangenheit Lisas als KZ-Aufseherin.

Der Inhalt: Lisa, einst Aufseherin im KZ Auschwitz, glaubt auf einer Schiffspassage nach Südamerika in den 1950er-Jahren eine ehemalige Lagerinsassin zu erkennen. Ihr Gatte Walter, ein Karrierediplomat, der von Lisas Vergangenheit bislang nichts ahnte, ist entsetzt und fürchtet um seine Position. Für Lisa beginnt ein schmerzlicher Prozess der Erinnerung, bei der immer wieder Szenen aus Auschwitz das Geschehen auf dem Schiff überlagern. Ob es sich bei der unbekannten Passagierin tatsächlich um jene Marta handelt, bleibt letztendlich ungewiss.
Das Libretto von Alexander Medwedew basiert auf einer Erzählung von Zofia Posmysz, die als Häftling Nummer 7566 das KZ überlebte - und die diese Neuproduktion, die bereits 2021 an der Oper Graz herausgekommen ist, begleitet hat (im August 2022 ist Zofia Posmysz im Alter von 98 Jahren verstorben). Knappe Szenen der Schiffspassage wechseln mit längeren aus Auschwitz, und das ist vermutlich der Grund, warum nicht noch mehr Bühnen dieses dramaturgisch wie musikalisch faszinierende Werk nachspielen. Ob - und gegebenenfalls wie - man Auschwitz auf der Bühne darstellen kann, bleibt eine heikle Angelegenheit.

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Die Erinnerungen an Schiffsüberfahrt und an Auschwitz überlagern sich.

Regisseurin Nadja Loschky hat eine weitere (stumme) Figur hinzuerfunden, nämlich die gealterte Lisa, die sich an besagte Schiffspassage wie an die Ereignisse in Auschwitz erinnert. Damit ist eine dritte Zeitebene gegeben, die grob unserer heutigen Erinnerung entspricht. Bühnenbildnerin Etienne Pluss hat dafür einen faszinierenden Bühnenraum geschaffen, der in blassen Türkistönen einen irrealen Saal mit leeren Regalen und vielen Türen zeigt. Man kann diesen Raum als Ort der Erinnerungen auffassen, einerseits unwirklich leer, aber im Verlauf der Geschichte immer wieder bevölkert durch die Akteure der beiden Erzählstränge. Dabei fixieren die vorsichtig historisierenden Kostüme (Irina Spreckelmeyer) die jeweiligen Kontexte "Auschwitz" und "Schiffspassage". Ganz unproblematisch sind auch Uniformen und Häftlingsanzüge nicht, aber vor allem im zweiten Teil gelingen immer wieder beklemmende Szenen, ohne dass die Inszenierung in ein sentimentales Kostümdrama abgleitet.

Vergrößerung in neuem Fenster Erinnerungen an Auschwitz: Marta erhält zum Geburtstag Rosen

Nun ist die Passagierin kein Diskursdrama, sondern fesselndes Musiktheater - und es wird durchweg hervorragend gesungen. Karina Repova verleiht der Lisa szenisch wie stimmlich eine nervöse Intensität und zeichnet die zunehmende Panik ihrer Täterfigur fesselnd nach. Auf der anderen Seite gibt Nadja Stefanoff der inhaftierten Marta stimmlich großes Format und entsprechende Würde, ohne "opernhaft" zu wirken. Auch ihr leicht eingedunkelter Sopran behält eine gewisse Unruhe als Grundierung, was der Musik wie der Geschichte entgegenkommt. Florian Stern gibt mit solidem Tenor den biederen, an einer Aufarbeitung der Vergangenheit nicht interessierten Diplomaten Walter, den Gatten Lisas. Brett Carter singt mit eindrucksvollem Bariton Martas Verlobten Tadeusz, ein ebenfalls inhaftierter Geigenvirtuose, der vor dem Lagerkommandanten dessen Lieblingswalzer spielen soll - und als Zeichen des Widerstands Bachs Chaconne anstimmt, was seinen Tod bedeutet. Mit anrührend mädchenhaft lyrischen Stimmen sind die weiblichen Mitgefangenen besetzt (Katja: Julietta Aleksanyan, Krystina: Lamia Beuque, Vlasta: Luisa Sagliano, Hannah: Karolina Makuła, Bronka: Lucie Ceralová, Yvette: Alexandra Samouilidou).

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Lisa und Martas Verlobter, der Geigenvirtuose Tadeusz

Fabelhaft spielt das Philharmonische Staatsorchester Mainz unter der Leitung seines Chefdirigenten Herrmann Bäumer. Die Musik für die Aufseher klingt nüchtern trocken, der besagte Walzer für den Kommandanten grotesk "schmutzig", die lyrische Musik für die Inhaftierten wird nie süßlich. Weinbergs Musik gewinnt ihre Spannung aus den collagenhaft gegeneinander geschnittenen musikalischen Ebenen, und das wird hier, den guten (oft unsichtbar und litaneihaft von der Hinterbühne singenden) Chor eingeschlossen, ganz ausgezeichnet umgesetzt.


FAZIT

Ene szenisch wie musikalisch berührende Produktion - und einmal mehr fragt man sich, warum die Passagierin nicht noch häufiger gespielt wird.





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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Herrmann Bäumer

Inszenierung
Nadja Loschky

Adaption und Übernahme Regie
Nick Westbrock

Bühne
Etienne Pluss

Kostüme
Irina Spreckelmeyer

Lichtdesign
Sebastian Alphons

Wiedereinrichtung Licht
Frederik Wollek

Video
Christian Weißenberger

Chor
Sebastian Hernandez-Laverny

Dramaturgie
Marlene Hahn
Elena Garcia Fernandez


Statisterie und Chor des
Staatstheaters Mainz

Philharmonisches Staatsorchester Mainz


Solisten

* Besetzung der rezensierten Aufführung

Lisa
Karina Repova

Walter
Florian Stern

Marta
Margarita Vilsone /
*Nadja Stefanoff

Tadeusz
Brett Carter

Katja
*Julietta Aleksanyan /
Liudmila Maytak

Krystina
Lamia Beuque

Vlasta
Luisa Sagliano

Hannah
Karolina Makuła

Bronka
Lucie Ceralová

Yvette
Alexandra Samouilidou

Die Alte
Ruth Müller

1. SS-Mann
Stephan Bootz

2. SS-Mann
Gregor Loebel

3. SS-Mann
Collin André Schöning

Älterer Passagier
Doğuş Güney

Oberaufseherin
* Kruna Savič /
Anika Baumann

Kapo
Ina Meyer

Steward
Georg Schießl

Alte Lisa
Heide-Marie Böhm-Schmitz


Weitere Informationen
erhalten Sie vom
Staatstheater Mainz
(Homepage)




Da capo al Fine

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