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GENUA/ Teatro Carlo Felice: „Mia breve gioventù…“ – LA BOHÈME

21.04.2024 | Oper international

„Mia breve gioventù…“ – La Bohème am Genueser Teatro Carlo Felice

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Foto: Teatro Carlo Felice.

Zweifelsohne ist “La Bohème” eine der berühmtesten Opern überhaupt, vielleicht weltweit sogar die beliebteste, es können hier wohl nur die Traviata und Tosca mithalten. Mit der traurig-schönen Geschichte der jungen Künstler im Quartier Latin von Paris ist ebenso die legendäre Produktion Franco Zeffirellis verbunden: Niemandem ist es bislang gelungen, die Geschichte dermaßen intensiv, detailliert, lebendig als auch authentisch auf der Bühne umzusetzen und dabei eine zeitlose Inszenierung zu schaffen, die Maßstäbe geschaffen hat. Das Genie Zeffirellis kreierte dabei ein hochromantisches Bild vom Paris des frühen 19. Jahrhunderts, welches so wahrscheinlich niemals existierte. Not, Elend, Armut, Krankheit und Tod werden zwar in der Bohème durchaus als Zeugnis aufgegriffen. Nur werden weder die Qualen von Mimis Krankheit noch der Hunger der Bohèmiens realistisch dargestellt. In romantischer Verklärung werden stattdessen die negativen Aspekte eines Lebens in wirtschaftlicher Instabilität glorifiziert. Das Resultat dessen ist eben jenes bittersüße Konstrukt, in welchem Giacomo Puccini verherrlichend an seine eigene Studentenzeit zurück dachte, was dann Franco Zeffirelli visuell so unvergleichbar umzusetzen verstand und was bis heute in dieser Kombination ein ideales Beispiel für eben jenen Eskapismus bildet, den die Oper als Kunstform zu erzeugen imstande ist. Aber ist dies schon das Ende der bestmöglichen Herangehensweise an das Stück? Hat Franco Zeffirelli die Ultima Ratio bei einer Umsetzung der Bohème erreicht? Ist Eskapismus denn überhaupt noch das, was Oper heute bieten soll und darf?

Natürlich liegt gerade in der romantischen Zeichnung des Stoffes eben jener Charme, der das Werk so unvergleichlich groß macht: Sowohl die unvergleichliche farbliche Vielfalt und lautmalerische Kraft in der Komposition des Lucchesen, als auch die überbordende, fast schon barocke Opulenz und Schönheit des Bühnenbilds des Fiorentiners machen in ihrem Zusammenspiel Kombination die Bohème einzigartig. Doch wie sagte Wagner (den auch Puccini verehrte, liebte und sogar beneidete) so schön: „Kinder, macht Neues! Neues! und abermals Neues! – Hängt Ihr Euch ans Alte, so hat euch der Teufel der Inproduktivität, und Ihr seid die traurigsten Künstler!“
Der Tiburtine Augusto Fornari hat sich mit wohl eben jenem Ansatz am Teatro Carlo Felice Genua der Bohème genähert und ihm ist dabei eine neue Lesart der Bohème gelungen, ohne dabei eben jener Ästhetik verlustig zu werden, die das Stück ausmacht oder gar in stupides, langweilendes Regietheater zu verfallen. Denn Herr Fornari erkennt den Charakter der Bohème an: Puccini war kein Verist, er wollte nicht sozial anklagen. Puccini sah sich stets als Theatermusiker, er wollte die Bühne lebendig machen und so direkt in die Herzen des Publikums vordringen: „Gott berührte mich mit seinem Finger und sagte: ,Schreibe fürs Theater. Nur fürs Theater‘.“ Eine entsprechende Regie-Umdeutung wäre also nicht nur unangemessen gewesen, sondern ein Schlag ins Gesicht des italienischen Kulturerbes Oper und somit auch der italienischen Identität.

Nun ist das auch gar nicht nötig, denn auch die Bohème birgt eine beeindruckende, inhaltliche Tiefe, man lasse sich vom unterhaltsamen Gewand welches ihr Puccini überstreifte nicht täuschen. Augusto Fornari weis dies und greift einen Aspekt auf, der bei näherem Hinsehen unübersehbar ist: Bereits vor dem Öffnen des Vorhangs sehen wir diesen mit einem Kinderbild verziert. Bunte, farbenfrohe Zeichnungen zeigen die Figuren des Stücks in ihrem täglichen Tun, gleichzeitig spiegeln sie den klanglichen Reichtum der Komposition wider noch bevor der erste Ton erklungen ist. Schief und lustig stehen die Häuser des Quartier Latin durcheinander und erzeugen ein fröhliches, unbeschwertes Bild. Auch die Mansarde der Bohèmiens, welche wir nach dem Öffnen des Vorhangs sehen entspricht eben jener Ästhetik eines unbeschwerten Kinderbildes: In knalligen Farben thront die Heimstatt der Künstler auf einem Dach, umgeben von ebenso knallig bunten Häusern. Die Künstler sind in farbenfrohe Kostüme gewandet, an den Wänden sehen wir Zeichnungen, die ebenso aus Kinderhand stammen könnten. Francesco Musante zeichnet für Bühne und Kostüme verantwortlich und hat hier ein explosives, freudestrahlendes Bild geschaffen, das wir so noch nicht gesehen haben. Zusätzlich toben auf der Bühne kindliche Alter Egos der Protagonisten herum, die im Spiel versunken die Geschehnisse ignorieren und uns zeigen, welcher Idee Augusto Fornari hier folgt. Er greift das Spiel der Kinder im zweiten Akt auf und führt uns vor Augen, daß letztlich die Protagonisten der Bohème selbst noch immer einem kindlichen Spiel folgen. Noch halbe Kinder seiend, verspotten Rodolfo und seine Freunde die Realität, wischen spielerisch alles weg, was diese in ihrer Welt stören könnte und leben in ihren Luftschlössern, die sie sich in der trügerischen Illusion des Quartier Latin gebaut haben: „Chi son? Chi son? Sono un poeta. […] Per sogni e per chimere e per castelli in aria l’anima ho milionaria.“ Hier spricht die Überheblichkeit der selbsternannten Intelligenzia, die glaubt über den Dingen zu stehen, ja sogar den Tod verhöhnen zu können und nicht realisiert, daß es sich hier nur um das ungestüme Stürmen und Drängen der gerade erst aus der Pubertät entwachsenen Jeunesse handelt und keine vermeintliche Überlegenheit.  

Der unbeheizte Ofen wird dann schlicht mit einem großen Schild versehen „Fermé pour l’hiver“ und somit der Mangel an Heizmaterial zu großen Ferien umgekehrt. Beim Anklopfen Benoits versteckt man sich einfach hinter der aufgeschlagenen Zeitung. Galeano Salas fährt als Rodolfo dann passend dazu bereits im ersten Akt eine stimmliche Leichtigkeit auf, welche die Sorglosigkeit der knalligen Illusion noch unterstreicht:  Leicht und unbeschwert ist sein Gesang, seine Stimme offen und klar. Feinster Schmelz wird uns schon da schon bei „Nei cieli bigi guardo fumar dai mille comignoli Parigi“ zuteil und wird von Herrn Salas den gesamten Abend Land exquisit gepflegt. Alessio Arduini steht ihm als Marcello in nichts nach und beide spielen sich gesanglich wunderbar die Bälle zu. Hier stehen zwei Freunde auf der Bühne, deren Sicht auf das Leben dieselbe ist, fernab von den Sorgen Realität. Einzig Schaunard ist mit einem Mindestmaß an Realitätssinn ausgestattet, was letztlich nur seiner Anstellung als Musiker und einem ansatzweise geregeltem Einkommen zu verdanken ist – doch ist es er, der die Freunde anregt, das Geld gleich wieder zu verprassen. Pablo Ruiz stattet diese Rolle mit wunderbarem Schalk in Nacken aus, reiht sich in die gesangliche Klarheit der Bohèmiens ein und wir denken stellenweise, die Bohème zum ersten mal zu hören, so sauber, offen, glitzernd und frisch ist der Klang der Stimmen.

Und in diese surreale, schreiend bunte Welt platzt nun die todkranke Mimì, die nichts lieber tut, als sich dieser illusorischen Welt hinzugeben und unwissentlich die Realität schlagartig in das Leben der Künstler zurückbringen wird. Anastassia Bartoli gelingt es fabelhaft, ihre Partie engelsgleich zu singen, zart und doch mit dem Maß an Robustheit im Spiel, welches es benötigt, um eine Midinette, die ein Leben der Entbehrung führt, überzeugend darzustellen. Ihr beeindruckendes Stimmvolumen ist dabei nie zu aufdringlich, ihre Stimme schwebt stellenweise regelrecht und bildet eine Klanggemeinschaft mit den Streichern. Herr Salas lässt dann seinen Schmelz mit „chè gelida manina“ zu einem ersten Höhepunkt auffahren, einfühlsam dringt er direkt an Mimìs Herz und verführt auch uns dazu, in der phantasievollen Welt dieser Bohème zu versinken. Und so entsteht einer der seltenen Momente, in der Sänger und Orchester eine vollkommene Einheit, einen einzigen, untrennbaren Klang bilden, die in den Worten „la speranza“ gipfelt. Zu Recht ertönen erste Bravo-Rufe für Herrn Sala.
Mit „mi chiamano Mimì“ kann Frau Bartoli mindestens ebenso viel Emotionalität ausspielen, ihre Stimme ist zart wie eine frisch spriessende Blüte an einem Frühlingsmorgen und hier wird klar wie nie, daß Mimì sich selber meint, wenn sie von den Blumen singt, die sie stickt. „Mi piaccion quelle cose che han sì dolce malia, che parlano d’amor, di primavere, che parlano di sogni e di chimere, quelle cose che han nome poesia.“ Auf einer Welle der Emotionen treiben wir mit den Träumen Mimìs und sehnen mit ihr den ersten Kuss des Frühlings herbei, den sie mit ihrer Stimme bereits Rodolfo schenkt – „il primo bacio dell’aprile è mio!“. Auch hier folgen verdiente Brava Rufe für Frau Bartoli und gemeinsam mit Herrn Salas wird „O soave fanciulla“ zu einem nicht enden wollenden Gefühl des Glücks, einem Meer der Freude, Hoffnung und Zuversicht, das mit goldenem Klang das Theater erfüllt.

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Foto: Teatro Carlo Felice

Wir erleben eine Liebe voller Unschuld, die gerade wegen ihrer Sorglosigkeit und ihrer Irrationalität so leicht und mitreissend ist. Denn natürlich kann eine solche Geschichte kaum gut gehen. Doch kümmert das die Bohèmiens nicht und auch Mimì schliesst sich dieser Sorglosigkeit nur allzu gerne an. Es sind dann auch die kindlichen Alter Egos, die am Ende des ersten Akts den überdimensionalen Flügelschlüssel an der Seite der Mansarde gemeinschaftlich aufziehen, woraufhin sich diese zu drehen beginnt und den Blick auf das Bühnenbild des zweiten Akts preisgibt. Waren wir soeben noch in der abgeschotteten eigenen kleinen Welt der Künstler, in der sie ihren Phantasien, Wünschen und Träumen nachlaufen, offenbart sich nun jene große Welt, in welcher sie genau diese ausleben: Das Café Momus!
In seiner farblichen Intensität zeigt das Bühnenbild des zweiten Akts, daß die Welt, in der sich die Protagonisten befinden, einerseits durch ihre kindlichen Träume genährt wird, andererseits mit ihren Illusionen genau diese Träume nährt. Akrobaten turnen auf der Bühne, Jongleure und Gaukler verzaubern uns mit ihren Kunststücken, eine gigantische Spieluhr wird hereingefahren, in der eine Ballerina mit ihrem Tanz einen Boxer zähmt – ein Sieg des Spiels und des Schönen über die harte Realität. Das Bild scheint vor Farben regelrecht zu explodieren, ein Rechtschreibfehler im Schild des Café Momus ist schlicht durchgestrichen. Es ist ein Ort der Sorglosigkeit und der nie enden wollenden Freude, der sich kein bisschen um die Sorgen des Alltags schert.

Und als Königin der Sorglosigkeit zieht auf einem Wagen in Form eines überdimensionalen rosanen Schaukelpferds, Alcindoro hinter sich an einer Leine führend, Musetta ein, die Königin des Momus. Sie hat das Leben im ewigen Spiel zur Perfektion gebracht und in ihrer Darstellung lässt Benedetta Torre keinen Zweifel daran, daß sich Musetta dem Leben ohne Verantwortung vollends hingegeben hat. Sie ist hier kein männermordender Vamp oder eine aggressive Feministin. Ihre Musetta ist eine hoch verletzliche Frau, die sich im Spiel mit den Gefühlen selbst schützt. So wird „Quando m’en voi“ zu einer komplexen Charakterzeichung, die stellenweise zutiefst sensibel und verletzlich klingt. Wenn Frau Torre davon singt, daß sie die Qualen von Marcellos Sehnsucht nach Ihr kennt, meint sie damit ebenso ihre eigene Sehnsucht nach ihm „So ben: le angoscie tue non le vuoi dir, ma ti senti morir.“. Denn auch sie selbst bringt es um, beständig von Männern umgeben zu sein, für die sie nichts empfindet und die nur ihren Körper begehren. Ist sie zu Beginn der Arie noch von Männern mit gesichtslosen, fetischartigen Masken umgeben, bricht mit einem Mal die grausame, hier regelrecht widerwärtige Realität in die bunte Welt des Café Momus hinein. Ihr Leben als Kokotte ist tatsächlich jenes einer Prostituierten und weit weg von der bunten Unbesorgtheit, die sich die Bohèmiens herbei träumen. In Marcello sieht sie die Möglichkeit, diesem Grauen zu entfliehen und so klingt das langsam gesungene „ma ti senti morir“ wie ein Erspähen einer ferneren, besseren Zukunft, berührend, hoffnungsvoll und voller Intensität, wegen seiner Klar- und Offenheit eben auch so unglaublich verletzlich. Erneut wird der Raum vom funkelnden Klang der Einheit von Orchester und Gesang geflutet, mehr Puccini ist nicht möglich. Marcello und Musetta finden wieder zueinander, sorglos ziehen die Freunde von dannen, fixieren die überlange Rechnung unter dem ebenso überdimensioniertem Zylinder Alcindoros und werden eins mit der jubelnden Menge der Kinder welche freudig den Zapfenstreich unter Anführung des Tambourmajors erwarten. So endet der zweite Akt in einem gigantischen Fest, ja als Triumphzug der Kindlichkeit, einer Feier des Lebens im Jetzt, ohne Tristesse und Pflichten, dem sich die Bohèmiens bedenkenlos hingeben.

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Foto: Teatro Carlo Felice

Gnadenlos bricht die Realität in diese fabelartige Welt hinein: Bereits die ersten Takte des dritten Aktes kündigen harsch und unausweichbar die Realität an. Das noch bunte Häuserbild flankiert eine düstere Realität vor den Toren der Stadt, Soldaten halten in grauen Wintermänteln Wache, tragen Kranke und Betrunkene, von der Sorglosigkeit berauschte fort. Der Frühling Mimìs ist einem unbarmherzigen Winter gewichen. Frau Bartoli lässt hier eine hochkultivierte Piano-Kultur ihrer starken Stimme zum Vorschein kommen und schildert Marcello berührend ihre Trauer „In lui parla il rovello, lo so; ma che rispondergli, Marcello?“. Voller Sehnsucht klingen ihre Worte, behutsam scheinen sie die Erinnerung an die Stunden mit Rodolfo umschliessen und behüten, die Erinnerung daran bewahren zu wollen, voller Bangen, dass es kein Wiedersehen geben wird: „Se vuoi…serbarla a ricordo d’amor…
Addio, senza rancor“.  Doch bauen die kindlichen Alter Egos von Mimì, Marcello und Rodolfo im Hintergrund bereits einen Schneemann und wärmen sich am Feuer der Kindlichkeit. Noch einmal gelingt es ihnen gemeinsam mit Musetta, die illusorische Welt ihrer Phantasien wiederaufzubauen. Noch einmal gelingt es den Bohèmiens, der Realität ein Schnippchen zu schlagen. Aus dem fallenden Schnee werden Rosenblätter, die von den Bewohnern der umstehenden Häusern aus Ihren Fenstern über Mimì und Rodolfo gestreut werden, während beide bei rosarot gefärbtem Himmel durch das Stadttor in die graue Welt vor der Stadt Paris schreiten, die Streicher einen weiteren Moment italienischer Grandezza erzeugen der uns vollkommen verzaubert und weiter in die kindliche Welt von Mimì und Rodolfo entführt – bis der Schlussakkord uns mahnend daran erinnert, dass sich die Zeit nicht aufhalten lässt.

Überhaupt beweist Maestro Francesco Ivan Ciampa an diesem Abend einmal mehr seine herausragenden Qualitäten im Dirigat des italienischen Fachs, welche bei Puccini ganz besonders hervorstechen. Fernab von üblichen Plattitüden arbeitet er einzelne Stellen sorgfältig gemeinsam mit dem Orchester und den Sängern aus und lässt die zahlreichen lautmalerischen Stellen, die Puccini im Werk eingebaut hat, sorgsam wirken. So braucht es einen Moment der Stille, bis das Feuer im Ofen der Bohèmiens anspringt und es auch klanglich knistert und springt. Stellen intimster Gefühle werden behutsam und zart ausgearbeitet, die Flöten im Orchester antworten wie eine Vogelstimme auf Mimìs Wunsch nach einem Frühling und die Schneeflocken rieseln greifbar vom Himmel Paris‘. Das so erzeugte Klangerlebnis ist an diesem Abend nicht nur eines, an dem Orchester und Sänger jederzeit gemeinsam einen Klang erzeugen. Es bildet ein erstaunlich realistisches Bild der Geschichte, welches fernab jedweden Kitsches und Klischees ist. Somit bildet es einen wunderbaren Kontrast zur bunten Kinderwelt der Protagonisten. Es ist also wolle die Musik uns an diesem Abend sagen: Es ist schön wie ihr liebt und lebt, aber denkt daran, daß die Realität euch nicht verschonen wird! Zeitgleich gönnt uns Herr Ciampa jene eskapistischen Momente, kostet sie mit uns gemeinsam in Gänze aus, lässt uns in Puccinis goldener Musik schwelgen, uns von den majestätischen Wellen des Klangs davontragen um uns dann schließlich behutsam auf den Boden der Realität zurückzubringen.

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Foto: Teatro Carlo Felice

Diese Rückkehr zur Realität, die im 3. Akt bereits anklang, wird auch szenisch im 4. Akt fortgesetzt. In der Mansarde hängen nun nicht mehr Kinderbilder, sondern nur noch Bilder von Musetta und Mimì – das Refugium der Künstler kann sie vor ihrem Liebeskummer nicht schützen. Noch einmal ziehen vor der Mansarde kindliche Alter Egos vorbei, spielen miteinander, das Liebessehnen Rudolfos und Marcellos wird zu einem fast schon Bel Canto artigem Duett, das geschmeidig wie Öl aus ihren Kehlen rinnt. Das Hinzustoßen von Schaunard und Colline artet schliesslich in eine Kissenschlacht aus, die den Gipfel des kindlichen, ja fast schon infantilen Verhaltens der Künstler symbolisiert – sie wollen ewige Kinder bleiben. Erst das Eintreten Musettas, die vom Zustand Mimìs berichtet, markiert dann das abrupte Eindringen der Realität, welches die Künstler erst langsam begreifen. „Vecchia zimarra“ wird zum Abschied von der Phantasiewelt der Künstler, der Mantel zum Symbol der eskapistischen Welt ohne Verantwortung. Gabriele Sagona legt diese Arie fast schon einem Kinderlied gleich an, das nun unvermeidbare Loslassen vom unbeschwerten Leben und der Übernahme von Verantwortung wird noch ein letztes mal spielerisch verarbeitet. Dieses auch weniger trauernd, sondern mehr einsichtig, wohl wissend, dass dieses Dasein als Bohèmien von nur begrenzter Dauer sein konnte. „Ora che i giorni lieti fuggir, ti dico addio, fedele amico mio. Addio.“ – gefasst und doch bedrückt, den kommenden Ereignissen fest ins Auge sehend, klingt der Bass Herrn Sagonas und breitet sich majestätisch in seiner Fülle aus.
Noch ein letztes Mal begehren die Geigen gegen diesen Schritt des endgültigen Erwachsenwerdens auf, spielen erneut die Melodie von „soave fanciulla“ und mit den Worten „Sei il mio amor…e tutta la mia vita“ erschafft Frau Bartoli einen weiteren Höhepunkt, den Herr Salas mit den Worten „Ah Mimì, mia bella Mimì“ beschliesst. Widerstandslos dringt dieser Moment in unsere Herzen.  

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Foto: Teatro Carlo Felice

Sanft scheint Mimì in den Tod zu entgleiten und fast schon zärtlich, aber fragil und endgültig muss auch Rodolfo in seiner Trauer von Mimì und dem unbeschwerten Leben als Bohèmien loslassen. Im Vordergrund zieht vor der Mansarde ein Wagen vorbei, in dem die kindlichen Alter Egos sich winkend von den Künstlern verabschieden und für immer fortziehen. Vorbei ist sie, die wonnevolle Jugendzeit – „Mia breve gioventù“!  

E.A.L

 

 

 

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