„Lucia di Lammermoor“ am Royal Opera House: Dieser Haushalt macht krank

(Edgardo) Xabier Anduaga (Lucia) Nadine Sierra ROH Lucia di Lammermoor © Camilla Greenwell 2024

Eine Oper mit zumindest entferntem Großbritannienbezug in London – allerdings nicht unter 16 Jahren empfohlen. Wer nun eine schrille Horrorgemetzelmodernität erwartet, wartet vergebens. Man präsentiert ein Historiencocktail mit Garnierung durch einen modernen Blickwinkel, Geister, eine angemessene Menge Kunstblut und Messerblitzen – und rundum erstklassige musikalische Leistungen. (Rezension der Vorstellung v. 19.04.2024/Wiederaufnahme)

 

 

Regisseurin Katie Mitchell teilt die Bühne in jeder Szene in zwei: stets ein Zimmer, in dem die gesungene Handlung geschieht, dann ein „stummes Zimmer“, in dem kleine Handlungen dazugedichtet werden – und das derart realistisch, dass man, sofern man den Plot nicht im Schlaf herunterbeten kann, glatt einige stumme Szenen für librettogegebene Anweisungen halten könnte. Wahlweise sind Lucias Zimmer, ihre Ankleide, ihr Bad, der Ballsaal der Ashtons, das Wohnzimmer und die Familienkrypta im Bild, alles in einem hochästhetischen, kränklichen Grünstich gehalten (Bühnenbild: Vicki Mortimer, Licht: Jon Clark). Man fühlt sich erinnert an die Tapeten und Farben des viktorianischen Zeitalters ein Jahrhundert nach der Handlungszeit der Romanvorlage, die für eine leuchtend grüne Farbe mit Arsen versetzt wurden. Bedauerlicherweise vergiftete über Jahre hinweg die Wandgestaltung ihre täglichen Bestauner – kurz gesagt: dieser Haushalt macht krank. Puppenhausgleich ist dieses Bühnenbild geeignet für die Darstellung einer Familie, in der Druck und psychische Gewalt Geheimniskrämerei und den Lauf des lauernden Desasters im Nebenzimmer befeuern.

(Enrico Ashton) Artur Ruciński, (Lucia) Nadine Sierra/ ROH Lucia di Lammermoor/Foto © Camilla Greenwell 2024

Während Enrico und seine Mannen demnach einen Eindringling in der Krypta suchen, verkleiden sich Lucia und Kammerzofe Alisa (mit schlankem Mezzo: Rachael Lloyd) als Männer, um besagten Eindringling, ihren heimlichen Geliebten Edgardo aus der verfeindeten Geschichte der Ravenswoods, im Anschluss in der Krypta zu treffen; während Enrico höflich-ungeduldig im Schlafzimmer der Schwester wartet, übergibt sich Lucia morgens in die Toilette: schwanger. Dabei stimmlich herrlich gelenkig mit bemerkenswert kräftigen Spitzentönen: Artur Ruciński als Enrico Ashton, der sich prinzipiell als Familienoberhaupt und Geschäftsmann versteht und – fatalerweise – zweitrangig als Bruder. Seine Schwester versteht er erst beim Anblick ihrer Leiche nicht mehr als Geschäftssache; seine Körperhaltung bricht förmlich. Ebenfalls zum Inventar gehören zwei hauseigene Geister: Lucias jüngst verstorbene Mutter sowie den Geist der getöteten Urahnin, dessen Erscheinung Lucia ihrer Zofe Alisa beschreibt. Besagte Urahnin pflegt einen Hang zu immer häufiger werdenden ominösen Erscheinungen; bereits zu Beginn in Edgardo und Lucias Verabschiedung nimmt sie kurz Lucias Position ein. Am Ende sehen selbst Enrico und die Anwohner von Lammermoor dieses halluzinatorisch schwebende Zeichen von psychischem Zusammenbruch im Reifrock, das so lang allen außer der zerbrechlichen Lucia unsichtbar blieb.

Pure Horrorkomik dagegen die Szene, in welcher die Hochzeitsgesellschaft den reichen Arturo Bucklaw begrüßt, an den Lucia gegen ihren Willen als Braut de facto verkauft werden soll. Enricos Erklärung, Lucia weine noch um ihre Mutter als Erklärung, warum die Braut kaum bei Sinnen erscheint, erntet für die schmierige Ernsthaftigkeit ihres Vortrags einige Lacher und weiht das unverschämt unterhaltsame Szenario bestens ein. Denn Lucia versucht prompt, bei dem Anblick ihres zukünftigen Gemahls Arturo Bucklaw sich zu betrinken und küsst den ungebeten erscheinenden Edgardo mit Hingabe. Arturo (solide: Andrés Presno) bleibt zunächst nur die Übersprungshandlung, sich mit kopfschmerziger Miene selbst zu betrinken. So gipfelt die Szene, wie sie muss: mit einer Fastprügelei zwischen zwei Tenören, während der Bass versucht, allen ins Gewissen zu reden. Das gelingt Insung Sim immerhin mit schmalem, konzentriertem Bassklang, der sich auch für die Überbringung schrecklicher Nachrichten eignet. Fast wie ein Theaterstück im Theaterstück, diese Szene, eine bissig-kurzweilige Miniatur des gesamten Themas, die gerade wegen ihres scheinbar unangebrachten Humors eine moralisierende oder predigende Haltung vermeidet. Ist des Pudels Kern doch stets dieser: die Herren machen Politik und freuen sich darüber; wenn ein anderer auf dem Schlips der eigenen Mannesehre steht, fliegt das Silber – der Zustand der verschacherten Frauen interessiert höchstens als Peinlichkeit für die Familienehre. „[Die Heroine] handelt kaum, zumeist wird an ihr gehandelt“ doziert ungefähr übersetzt ein Text im Programmheft von Diana Wallace über Sir Walter Scotts Romanvorlage – zumindest, bis die Frauen zum Messer greifen.

Denn während die Herren Enrico Ashton und Edgardo Ravenswood im Wohnzimmer einander manierlich Rache und Verderben schwören, macht Lucia im Nebenzimmer Nägel mit Köpfen und ersticht – mithilfe ihrer eingeweihten Zofe – den unerwünschten Gatten Bucklaw. Infolge des psychischen Zusammenbruchs, der Lucia rund um den Mord an Bucklaw ereilt, erleidet die junge Frau, stumm auf ihrem Bett sitzend, eine Fehlgeburt. Normanno (Michael Gibson mit hellfließendem Tenor) und Alisa verhindern noch mit Fußbodenschrubben und Wischtüchern, dass Enrico davon erfährt, doch für alles andere ist es zu spät. Der Verlust dieses ungeborenen Kindes, dessen Vater Edgardo war und das damit symbolisch für eine gemeinsame Zukunft des verbotenen Paares stand, lässt Lucias Psyche nun endgültig abstürzen. Ihre – im wahrsten Sinne des Wortes – Wahnsinnsszene singt sie in weißem Nachtgewand mit dem, was das Patriarchat historisch gesehen besonders anstößig fand: dem blutigen Schoß einer Frau. Was die männerdominierte Hochzeitsgesellschaft für das Blut des Mordopfers hält, und für ein Zeugnis einer körperlichen Gewalttat, was sie begafft, ist in Wahrheit das Blut einer verlorenen Zukunft, an der alle teilhatten, und das Zerschellen einer jungen Frau an der psychischen Gewalt männlicher Dominanz. Das alles auf die Bühne zu bringen, ohne fingerdeutend zu werden oder Vorstellungskraft und -willen der Zuschauenden zu sprengen: Chapeau.

(Edgardo) Xabier Anduaga, (Lucia) Nadine Sierra/ ROH Lucia di Lammermoor/Foto © Camilla Greenwell 2024

Selbiges gilt auch für die Titelheldin: Nadine Sierra leiht Lucia eine Stimme, die sich stets auf der Kippe zwischen den letzten Momenten der Jugend und einem erwachenden, erwachsenen Wissen zu bewegen scheint, einen vollen Klang ohne gesetzte Schwere ertönen lässt – eine Stimme, die bis in schwindelerregende Höhen weich bleiben kann und zu gegebenen Anlässen gleißend wird. In ihrer Wahnsinnszene beeindrucken besonders ihre Staccato-Verzierungen, die sich mit dem Klang der Soloflöte mischen und an eine springende, kaputte Platte erinnern, ein wortloses Stottern, eine Psyche, die die Ausdrucksfähigkeit verloren hat für das, was sie erleben musste. Xabier Anduaga singt an ihrer Seite ein höchst verdientes Debüt am Royal Opera House, klanglich offen und – relativ zum lyrischen Tenorfachs dieser Rolle – mit leicht „heldischem“ Einschlag, sowohl im Timbre als auch in einer natürlichen Durchsetzungsfähigkeit. Edgardos suizidalem Schmerz verleiht er in der letzten Szene greifbaren Ausdruck und profiliert sich mit der Figur des hingerissenen, jedoch impulsiv-eifersüchtigen heimlichen Geliebten, die im Libretto sonst tendenziell leicht zu Blässe neigt.

Am Pult des Royal Opera Orchestra leitet Giacomo Sagripanti ein sehr geschickt mit dem Bühnengeschehen auf die Sekunden choreografiertes Dirigat – ohnehin eine Kunst für sich – das eine Harmonie zwischen Bühne und Musik erschafft, die man kaum trennen möchte. Filigrane Holzbläsermelodien schreiben mit unsichtbarer Hand Verderben an die Wand; Harfenklänge begleiten schauerlich-schön das erste Erscheinen der erstochenen Urahnin. Auch das erste Erscheinen des Chores in der Bankettszene gelingt dem Royal Opera Chorus leichtfüßig und mitreißend.

Das verleitet auch das englische Publikum mit seiner klassischen „British stiff upper lip“ zu den üblichen sehr knäpplich bemessenen, aber immerhin begeisterten Vorhängen. Vielleicht müssen Teile des Publikums auch einfach ins Bett, denn für manche Publikumsmitglieder, die ganz deutlich unter sechzehn Jahre alt sind, war das vielleicht die erste Oper – und vermutlich eine einschlagende Erfahrung

 

  • Rezension von Lynn Sophie Guldin / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Royal Opera House / Stückeseite
  • Titelfoto: (Edgardo) Xabier Anduaga, (Lucia) Nadine Sierra/ ROH Lucia di Lammermoor/Foto © Camilla Greenwell 2024
Teile diesen Beitrag:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert