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Darf ein Schafott auch eine Gaskammer sein?

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Darf unbeanstandet gespielt werden: "Dialogues des Carmelites" an der Hamburger Staatsoper im richtigen Fallbeilrahmen Darf unbeanstandet gespielt werden: "Dialogues des Carmelites" an der Hamburger Staatsoper im richtigen Fallbeilrahmen
Darf unbeanstandet gespielt werden: "Dialogues des Carmelites" an der Hamburger Staatsoper im richtigen Fallbeilrahmen
Quelle: picture-alliance / dpa/dpaweb
Die Oper „Dialoge der Karmeliterinnen“ von Francis Poulenc spielt zur Zeit der französischen Revolution. Regisseure verlegen die Gräuel gern in die Gegenwart. Dagegen streiten die Erben vor Gericht.

Eigentlich könnten sich doch alle freuen. Als gegenwärtig letzte repertoiretaugliche Oper darf Francis Poulencs 1957 an der Mailänder Scala uraufgeführte „Dialoge der Karmeliterinnen“ gelten. Darin geht es wirklich um nicht viel mehr, als um Gespräche zwischen Nonnen, die sich von ihrem wahren Glauben nicht abbringen lassen, die während der antiklerikal gestimmten französischen Revolution voll Gottvertrauen, gefasst und eben nicht allein den Hinrichtungstod sterben. Das aber tun sie in einer musikalischen Sprache und in einer Dramaturgie, die selbst atheistische Zuschauer nicht kalt zurücklässt. Und so wurde diese stille, anrührende Frauenoper langsam aber nachhaltig ein wahrer Welterfolg.

Die Ereignisse im Kloster von Compiègne bis zur Hinrichtung der 16 Karmelitinnen durch die Guillotine am 17. Juli 1794 in Paris haben sich wirklich ereignet; das Grab der Schwestern kann man noch heute besuchen. Und auch Poulenc lässt für jede der Nonnen akustisch korrekt das Fallbeil herabsausen.

Diesen Realismus aber wollte der russische Starregisseur Dmitri Tcherniakov 2010 in seiner durchaus umstrittenen Inszenierung am Münchner Nationaltheater nicht haben. Bei ihm gibt es auch keine Nonnen. Es geht ihm in seiner universeller gehaltenen Interpretation als Reflexion über Todesangst und ihre Überwindung um nichts konkret Historisches, er versucht eine nach wie vor aktuelle Wertediskussion über das Individuum versus Gesellschaft. Und so zeigt er auch kein Kloster, sondern ein Glashaus, das am Ende eingenebelt wird. Eine Gaskammer? Die Schwester Blanche aber rettet die anderen Frauen und opfert sich: Sie fliegt mit dem Gebäude in die Luft.

Erben sind keine Künstler

Poulenc starb 1963, seine Werke werden erst 2033 rechtefrei. Und so kämpfen die Erben des kinderlosen schwulen Katholiken nach einer gewissen Inkubationszeit seit 2012 gegen diese Aufführung, besonders gegen die Schlussszene. Zweimal haben sie vor einem französischen Gericht verloren; nur der Firma, die die Aufzeichnung der Münchner Version auf DVD vertrieb (wodurch die Nachkommen wohl erst davon Kenntnis erhalten haben), wurde dies untersagt.

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Quelle: Die Welt

Jetzt sollen weitere vier Aufführungen der Inszenierung ab dem 23. Januar 2016 geändert oder abgesagt werden, so wollen es erneut die Erben. Der Münchner Intendant Nikolaus Bachler aber besteht weiterhin auf der künstlerischen Freiheit: „In der Hand der Künstler sind große Werke besser aufgehoben als in den Händen der Erben. Bühnenkunst wird durch freie Interpretation am Leben erhalten, nicht durch vermeintliche Rechtsansprüche.“

Nach Meinung der Erben muss der Märtyrertod aller Nonnen szenisch umgesetzt werden, um die Kernaussage des Werkes zu treffen, Bachler hingegen sieht sich als Märtyrer der Kunstfreiheit. Und während in Deutschlands Theatern (Brecht!) regelmäßig die Erben Recht bekommen, weil eben auch Texte geändert oder Fremdes eingefügt wird, scheint hier doch die Kunst zu siegen, denn die Oper wird ungekürzt aufgeführt, und das Gericht sieht ihre zentrale Aussage nicht entstellt. Recht so!

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