Buhs seien unvermeidlich, sagt Claus Guth. Er inszeniert Richard Strauss’ „Salome“ an der Deutschen Oper als Parabel eines Missbrauchs.

Claus Guth, Jahrgang 1964, zählt zu den intellektuellen und nachdenklichsten Regisseuren hierzulande. Gespräche mit ihm verlaufen in freundlicher Gelassenheit. In Berlin hat der gebürtige Frankfurter bislang vor allem an der Staatsoper inszeniert, an diesem Sonntag erlebt seine Ausdeutung von Richard Strauss’ Skandaloper „Salome“ an der Deutschen Oper ihre Premiere.

Berliner Morgenpost: Die „Salome“ mit ihrem Schleiertanz ist wohl eine der erotischsten Opernmusiken überhaupt?

Claus Guth: Ich finde die Musik extrem, monströs, ich finde sie fleischlich, aggressiv. Aber erotisch? Es gibt erotischere Musik, etwa wenn ich an Mozarts „Don Giovanni“ denke. Dazu ist die Oper permanent auf der Kante, es ist eher eine Hysteriestudie. Es gibt einen Grunderregungszustand, der sich auf den Körper überträgt. Auch von der Lautstärke her. Insofern ist die Musik sehr physisch, ja angreifend.

Die schöne verführerische Salome ist ein Leidenskind der bürgerlichen Welt. Was haben Sie im Stück entdeckt?

Beim Studieren der Rezeptionsgeschichte fiel mir auf, dass es eine Art Klischee der Moderne oder der Abstraktion gibt. Es ist immer dunkel dräuend, fahler Mond, es ist immer eine erfundene Bühnenkunstwelt mit einem kleinen Gruselexkurs und einem kleinen Erotikexkurs. Mir erschien das zu ungefährlich. Klischees lassen einen kalt. Für meinen Theaterbegriff muss man immer Brücken in die eigene Welt schlagen, sich an die eigene Biografie ankoppeln. Nur so lässt sich auf der Bühne eine Biografie erzählen. In den ersten zehn Minuten des Stücks erfährt man ja schon, dass ein Mädchen mit der Mutter vom leiblichen Vater zu dessen Bruder wechselt. Und dass dieser Bruder das junge Mädchen an die Stelle der Mutter setzen möchte.

Es ist eine Missbrauchsoper?

Ja, wahrscheinlich läuft es darauf hinaus. Aber bei mir wird man keinen Missbrauch sehen. Es geht um eine Entwicklungsgeschichte. Es geht um ein Kind, dem eine Kindheit nicht ermöglicht wird. Die Begehrlichkeiten des Stiefvaters zwingen sie zu einem Entwicklungssprung. Bei ihr sind das Vater- und Mann-Bild vertauscht. Allein das macht sie schon zum Opfer. Ich versuche, die Spuren zwischen Traum und Realität zu verwischen und zeige eine Frau, die ihr Schicksal selber in die Hand nimmt. Und dabei vom Opfer zum Täter wird.

Es ist ein biblischer Stoff, der Ende des 19. Jahrhunderts durch Oscar Wilde zum Gesellschaftsskandal wurde. In welcher Zeit siedeln Sie es an?

Es spielt in den 1950er-Jahren, es spielt also auch in die Entstehungszeit dieses Opernhauses hinein. Mich interessiert immer das Thema Monströsität unter einer perfekten Oberfläche. In dieser Disziplin war gerade die Nachkriegszeit führend. Das Abgründige sollte überall verborgen bleiben.

Oder hängt Ihre Sichtweise damit zusammen, dass man als Kind eines Deutsche-Bank-Aufsichtsrates automatisch links und Theatermann werden musste?

Nein, ich habe auch in meinem Umfeld andere Beispiele gesehen. Es gibt aber eine andere biografische Spur. Das Ganze findet im Maßanfertigungsstudio einer großen Schneiderei statt. Das war eine Atmosphäre, die mich mit meinem Großvater verband. Es war ein bürgerliches Umfeld in Bad Reichenhall, das ich gut kannte. Das Studio ist ein Ort, an dem man sich mit der Hülle, der Verhüllung von Menschen befasst. Dort trifft man auf Herren, Anzüge, Korrektheit. Es ist das Gegenteil von Monströsität und Nacktheit. Die Geschichte beginnt damit, wie die kleine Salome nachts an diesen Ort kommt. Das Stück ist eine Parabel. Ich erzähle, wie sich das Kind über die Puppenwelt seine Situation vergegenwärtigt.

Eine Art Therapie?

Man kann es so nennen. Salome verarbeitet alles im Spiel. Es gibt keinen Therapeuten.

Es gibt einen Regisseur.

Genau.

Als Regisseur haben Sie oft mit Sängerstars wie beispielsweise Anna Netrebko gearbeitet. Wie bringen Sie denen solche Rollengestaltungen bei?

Die Salome ist schon ein Extremfall. Ich habe die Sängerin frühzeitig getroffen und ihr erzählt, was mir vorschwebt. Damit hatte ich Catherine Naglestad die Möglichkeit gegeben, frühzeitig abzulehnen, weil es ihr vielleicht zu heftig ist. Wir hatten schnell den Eindruck, dass wir es zusammen schaffen können. Nach der Premiere werde ich tausendfach den Satz hören: Das habe ich nicht verstanden. Aber genau das gehört zum Stück dazu. Wer versteht schon, warum Salome den Jochanaan, den sie noch nie gesehen hat, begehrt? Warum Sie mit ihrem Vater so einen Machtkampf austrägt, dafür einen Kopf fordert? Das folgt doch keiner psychologischen Milchmädchenrechnung.

Seit Köln sind die Themen Sexualität, Übergriffigkeit, Missbrauch wieder in der Diskussion. Hat das Einfluss auf Ihre Inszenierung?

Wenn man von der Probe heimkommt, landet man im Fernsehen zwangsläufig bei TV-Talkrunden dazu. Ich habe schon darüber nachgedacht, inwiefern es etwas mit Salome zu tun hat. Ich gehöre nicht zu den Regisseure, die tagespolitisch arbeiten. Aber in dem Stück kommen zwei Dinge zusammen: Sexualität und Fremdheit. Ich denke an die Figur des Jochanaan, von dem man ja zunächst nur die Stimme hört. Herodes und Herodia treffen nie auf ihn als Person. Die Stimme von außen ruft also in ein funktionierendes System hinein und sagt, dass es nicht mehr lange gut geht. Das System gerät ins Wanken. Jochanaan ist die Inkarnation der Fremdheit. Das betrifft auch das Sexuelle. Salome ist Teil eines Systems, dass nicht über Sexualität redet, aber in dem sie stattfindet.

Ihre Salome wird jetzt keine aktuellen Irritationen auslösen?

Nein.

Und nicht ausgebuht werden?

Ich lege es nicht darauf an, aber es wird unvermeidlich sein. Bestimmte vertraute Bilder, die ja biblischen Ursprungs sind, die werde ich nicht bedienen.

Haben Sie eigentlich als Regisseur eine Art Botschaft?

Ich könnte mir mit gefälligeren Arbeiten, die allen gefallen, das Leben einfacher machen. Aber das interessiert mich nicht. Was auf der Bühne passiert, darf den Zuschauer nicht auslassen. Er muss gezwungen sein, sich irgendwie darin zu finden, sich zu identifizieren. Ich glaube, es gibt eine kleine kartharsische Wirkung. Das ist schon mein Anspruch.

Drei bis fünf Inszenierungen machen Sie pro Jahr. Ist man nicht irgendwann aus dem Alter heraus, ständig in wechselnden Städten und Theatern unterwegs zu sein?

Vor ein paar Wochen hatten wir eine große Familiensitzung. Ich bin gerade noch einmal frisch Vater geworden. Das dritte Kind. Dann merkt man schon, wie schwer es ist, nicht zuhause zu sein. Ich habe mich aber bereits, nachdem mir das mal entglitten ist angesichts der faszinierenden Aufträge, von einigem verabschiedet. Für die kommenden Jahre bin ich auf jeweils drei Stücke eingestellt. Aber in Berlin und Wien habe ich schon so etwas wie ein Zuhause-Gefühl.

Deutsche Oper Berlin. Premiere am 24. Januar 2016