Interview

«Wir können Serebrennikow jetzt nicht hängenlassen»

Seit August 2017 sitzt der Regisseur Kirill Serebrennikow in Moskau im Hausarrest. Dennoch hat am Sonntag seine Neuinszenierung von Mozarts «Così fan tutte» in Zürich Premiere. Opernhaus-Intendant Andreas Homoki über die Hintergründe eines gewagten Experiments.

Christian Wildhagen
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So machen es alle? Wer weiss – die Männer haben in Mozarts «Così fan tutte» jedenfalls ihre liebe Not mit den Frauen. (Bild: Monika Rittershaus / Oper Zürich)

So machen es alle? Wer weiss – die Männer haben in Mozarts «Così fan tutte» jedenfalls ihre liebe Not mit den Frauen. (Bild: Monika Rittershaus / Oper Zürich)

Herr Homoki, eine grundsätzliche Frage zu Beginn: Wie stark muss sich die 400 Jahre alte Kunstform Oper Ihrer Ansicht nach politisch positionieren?

Für mich ist «politisch» ein Begriff, der grundlegend das Zusammenleben von Menschen beschreibt: wie sich eine Gesellschaft formiert, was für Inhalte und Haltungen in ihr verbindlich werden – gegebenenfalls auch Haltungen, die unter Umständen die Freiheit von Einzelnen behindern oder einschränken. Und das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft – das ist nun wieder eines der zentralen Themen des Theaters und der Oper von ihren Anfängen bis heute. Was will die Gesellschaft von mir? Was ist legitim? Was will ich als Individuum, und wo widersprechen sich die Erwartungen gegenseitig? Darum geht es. Davon zu unterscheiden ist das Tagespolitische – da kann sich die Oper nur schwer überzeugend positionieren. Die Stoffe, die wir spielen, sind ja überwiegend historisch, aber wir spielen sie, weil wir sie vor dem Horizont unserer Gegenwart für zeitlos halten. Mozarts «Così fan tutte» ist da ein gutes Beispiel: Das Stück wurde im 19. Jahrhundert marginalisiert, nicht zuletzt aus moralischen Gründen; seit den 1970er Jahren hingegen gibt es einen regelrechten «Così»-Boom, weil man daran die ganze Problematik moderner Beziehungen thematisieren kann. So politisch ist die Oper.

Aber sollte sich Oper als lebendige Kunstgattung nicht auch konkret in tagespolitische Fragen einmischen?

Ich glaube, das führt in den meisten Fällen ästhetisch nicht sehr weit. Wir bringen ja einen bestimmten Kanon an Stücken auf die Bühne, und zumindest heutzutage gibt es das Bedürfnis, dass man ein Werk weitgehend so zeigt, wie es geschrieben ist. Dieser Werkcharakter wird gerade von konservativen Opernfreunden gern betont. Für mich als Regisseur ist weder die vermeintliche Werktreue noch irgendein plakativer Gegenwartsbezug entscheidend; mein Credo ist vielmehr, dass die Charaktere auf der Bühne für unsere Augen (wieder) lebendig werden. Eine Figur und die Themen, von denen sie singt, müssen glaubwürdig sein. Um das zu erreichen, gibt es viele ästhetische Ansätze, und als Intendant lernt man, die unterschiedlichsten Regiesprachen an seinem Haus zuzulassen. Ich persönlich mache aber kein Hehl daraus, dass ich weder einem abstrakten «L’art pour l’art» noch einem plumpen Naturalismus, der derzeit wieder auf dem Vormarsch ist, viel abgewinnen kann.

Kirill Serebrennikow gilt als Erneuerer des russischen Theaters und wurde zwischen 2011 und 2014 zur Galionsfigur der modernen staatlichen Kulturpolitik. 2017 wurde er zum Ziel einer mutmasslich politischen Kampagne. Sie führte zunächst dazu, dass eine Ballett-Premiere von ihm am Bolschoi-Theater im Juli kurzfristig abgesagt wurde. Im Bild: Der Ballett-Direktor des Bolschoi, Machar Wasiew, und dessen Generaldirektor Wladimir Urin. (Bild: Maxim Shemetov / Reuters)
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Im August 2017 wurde Serebrennikow verhaftet. Seither steht er unter Hausarrest und darf nur mit seinem Anwalt und seinem Vater kommunizieren. (Bild: Tatyana Makeyeva / Reuters)
Serebrennikow und drei weiteren Angeklagten wird vorgeworfen, staatliche Subventionen in die eigenen Taschen abgezweigt zu haben, statt sie für Aufführungen zu verwenden. Die Anklage kann aber keine Veranstaltung nennen, die angeblich nicht stattgefunden hat. Stattdessen organisierte Serebrennikows Gogol-Zentrum in drei Jahren mehr als 300 Aufführungen, Konzerte und Diskussionen. (Bild: Tatyana Makeyeva / Reuters)
Russlands Kulturschaffende solidarisieren sich deshalb mit dem Regisseur; dass eine politische Kampagne hinter dem Prozess gegen ihn steht, scheint klar. Wer der Absender ist, weniger. Serebrennikow gilt nicht als Oppositioneller und ist politisch gut vernetzt. (Bild: Maxim Shemetov / Reuters)
Auch international ist die Unterstützung gross. Die Premiere seines Films «Sommer» über den sowjetischen Rockstar Wiktor Zoi in Cannes nutzten seine Mitstreiter, um auf Serebrennikows Schicksal aufmerksam zu machen. (Bild: Stephane Mahe / Reuters)
Sie liessen seinen Platz an der Pressekonferenz demonstrativ leer. Die russischen Behörden liessen Serebrennikow nicht ausreisen, obwohl sich sogar Frankreichs Aussenminister dafür eingesetzt hatte. (Bild: Jean-Paul Pelissier / Reuters)
Serebrennikows Prozess beginnt am 7. November. Sein Anwalt glaubt, dass die Anklage völlig grundlos ist, weil es keine Geschädigten gab und Serebrennikow nichts mit der Buchhaltung zu tun hatte. Kronzeugin der Staatsanwälte ist eine Buchhalterin, die gegen Straferlass ein Geständnis ablegte. (Bild: Alexander Zemlianichenko / AP)
Bereits am 4. November feiert Serebrennikow mit Mozarts «Così fan tutte» am Zürcher Opernhaus Premiere. Er führte aus dem Hausarrest Regie – unter tätiger Mithilfe seines langjährigen Co-Regisseurs und Choreografen Jewgeni Kulagin, der die Proben leitet. (Bild: PD)
Das Vorgehen ist höchst ungewöhnlich und künstlerisch riskant. Doch das Opernhaus entschied sich für diese Lösung, um ein Zeichen der Solidarität mit Serebrennikow auszusenden. (Bild: Monika Rittershaus)

Kirill Serebrennikow gilt als Erneuerer des russischen Theaters und wurde zwischen 2011 und 2014 zur Galionsfigur der modernen staatlichen Kulturpolitik. 2017 wurde er zum Ziel einer mutmasslich politischen Kampagne. Sie führte zunächst dazu, dass eine Ballett-Premiere von ihm am Bolschoi-Theater im Juli kurzfristig abgesagt wurde. Im Bild: Der Ballett-Direktor des Bolschoi, Machar Wasiew, und dessen Generaldirektor Wladimir Urin. (Bild: Maxim Shemetov / Reuters)

Als Intendant haben Sie dennoch ein bisschen Tagespolitik betrieben, als Sie den Regisseur Kirill Serebrennikow für die neue Zürcher «Così fan tutte»-Produktion engagierten. Dass die Verpflichtung dieses in Russland schwer drangsalierten Künstlers zum Politikum werden konnte, dürfte Ihnen bewusst gewesen sein, oder?

Nein, war es nicht, und es spielte für meine Entscheidung auch keine Rolle. Obwohl ich kein intimer Kenner der russischen Theaterszene bin, hatte ich früh von Serebrennikow als «rising star» gehört. Dann kam Ende 2015 seine eindrucksvolle «Salome»-Inszenierung in Stuttgart heraus. Die habe ich mir auf Video angeschaut und ihn bei Proben zu einer Wiederaufnahme meiner «Meistersinger»-Inszenierung an der Komischen Oper in Berlin auch persönlich kennengelernt. Er hat dort zur gleichen Zeit Rossinis «Barbiere» erarbeitet und kam, wie man hörte, ausserordentlich gut an im Haus. Die zwei Produktionen, aber auch das gute Betriebsklima auf seinen Proben waren die ausschlaggebenden Argumente. Und wie es der Zufall wollte, hatte ich damals – ungeachtet unserer sonst viel längeren Vorläufe im internationalen Opernbetrieb – die Regie für «Così fan tutte» noch nicht besetzt und bot sie ihm kurzerhand an. Zum Glück hatte er Zeit. Mir war dabei natürlich klar, dass er eine zeitgenössische Lesart zeigen würde und keine Zuckerbäcker-«Così». Aber so etwas würde mich sowieso nicht interessieren. Mozart geht in dieser Oper wirklich ans Eingemachte, an die Substanz der Beziehungen zwischen Mann und Frau, und das muss man auch auf der Bühne sehen.

Sie mussten allerdings spätestens nach der Stuttgarter «Hänsel und Gretel»-Produktion, die Serebrennikow wegen des immer aufs Neue verlängerten Hausarrests nicht fertigstellen konnte, davon ausgehen, dass die Zusammenarbeit an der Willkürpolitik in Russland scheitern könnte. Gab es einen Plan B?

Ja, den gab es. Nach seiner Festnahme und der Verhängung des Hausarrests im August 2017 gab es einige in meinem Team, die mich gewarnt haben. Die haben aufgrund ihrer Erfahrungen mit Russland eher schwarz gesehen. Ich bin deshalb zu meinem Technischen Direktor gegangen und habe ihn nach dem spätestmöglichen Zeitpunkt gefragt, bis zu dem wir mit dem Beginn der Bühnenbildkonstruktion warten konnten. «Ende Februar 2018», war die Antwort. Diese Deadline habe ich Serebrennikow mitgeteilt und ihm auch gesagt, dass ich zu meinem grossen Bedauern danach wohl auf eine «Ersatzproduktion» umschwenken müsse, wenn sich an seiner persönlichen Situation nichts ändere. Wir haben uns dann eine zu der Zeit in Europa gespielte Inszenierung ausgeguckt – ich möchte aus Rücksicht auf die Beteiligten nicht sagen, welche Produktion das war – und diese sozusagen auf Stand-by gehalten.

Warum haben Sie gegen alle Widrigkeiten am Ende doch an der Zusammenarbeit mit Serebrennikow festgehalten?

Besagter Februartermin rückte immer näher, es gab sehr intensive Gespräche hier im Haus und auch mit meiner Familie, und plötzlich wusste ich: Ich kann das nicht tun. Wir können den jetzt da nicht hängenlassen in seinem Wohnzimmer-Knast. Das wäre ein ganz falsches Signal gewesen. Ich habe ihm daraufhin geschrieben: Kirill, wir lassen dich nicht im Stich, Plan B fällt aus, aber wie können wir es lösen? Von Serebrennikow kam schliesslich der Vorschlag, dass sein Choreograf und künstlerischer Assistent Jewgeni Kulagin und der Videodesigner Ilja Schagalow sozusagen als Mittelsmänner in Zürich an seiner Stelle arbeiten sollten.

Klingt wie ein Agententhriller aus dem Kalten Krieg . . . Wie muss man sich die Zusammenarbeit genau vorstellen?

Bereits vor dem Verstreichen unserer Deadline hatte sein Bühnenbild-Mitarbeiter Nikolai Simonow ein Modell von Serebrennikows Bühnenentwurf gebaut und auch eine Videobotschaft mitgebracht, in der Serebrennikow sein Regiekonzept erläuterte. Nun kamen auch Kulagin und Schagalow nach Zürich, wir haben recht schnell Vertrauen zueinander gefasst, und bald war klar, dass Jewgeni Kulagin das Konzept als Co-Regisseur auf die Bühne bringen sollte. Das Prozedere ähnelt demjenigen bei Wiedereinstudierungen von älteren Inszenierungen, die in der Regel von den Spielleitern des Hauses mit der jeweiligen Besetzung erarbeitet werden. Der ursprüngliche Regisseur ist dabei meist auch erst am Ende oder manchmal gar nicht zugegen.

Eine Neuinszenierung verlangt allerdings während des Entstehungsprozesses Tausende von Detail-Entscheidungen, gerade bei einem so dichten Dialogstück wie «Così fan tutte». Wie gross ist der Anteil von Co-Regisseur Kulagin, und welche Freiheiten hatte er?

Co-Regisseur Jewgeni Kulagin. (Bild: Opernhaus Zürich)

Co-Regisseur Jewgeni Kulagin. (Bild: Opernhaus Zürich)

Sehr weitreichende Freiheiten. Man muss sich das so vorstellen: Kulagin hat auf den Proben zunächst jede Szene mit dem Ensemble erarbeitet, und abschliessend gab es im Sinne einer «Ergebnissicherung» eine Videoaufzeichnung des Erreichten. Dieses Video wurde an Serebrennikow übermittelt, teilweise mithilfe seines Anwalts Dmitri Charitonow. Serebrennikow hat dann auf dem umgekehrten Weg per Video eine künstlerische Rückmeldung übermittelt, entweder an das gesamte Ensemble oder nur an Kulagin gerichtet. Dabei hat natürlich geholfen, dass er und Kulagin bereits häufig gemeinsam gearbeitet und auch diese Inszenierung zusammen entworfen hatten.

Hätten Sie als Intendant dennoch eingegriffen, wenn die Proben aus dem Ruder gelaufen wären?

Ich habe Serebrennikow von Anfang an gesagt, dass ich die Produktion hier in Zürich intensiv mitverfolgen und zur Not intervenieren würde. Ich habe all meine Unterstützung zugesagt. Jewgeni Kulagin hat die Proben aber vorbildlich geleitet, und ich musste nicht eingreifen.

Nochmals zurück an den Anfang unseres Gesprächs: Man konnte lesen, dass Serebrennikows Regiekonzept ebenfalls eine politische Stossrichtung verfolge und deutliche Kritik am kapitalistischen Konsumwahn formuliere.

Woher haben Sie das denn? Das erscheint mir etwas zugespitzt. Ohne zu viel vorwegzunehmen, kann ich sagen, dass die Inszenierung das in Mozarts Rokokowelt eher beiläufig abgetane Thema Krieg sehr ernst nimmt. Die beiden Verlobten Guglielmo und Ferrando werden wirklich eingezogen, und Fiordiligi und Dorabella begegnen nach ihrem Weggang tatsächlich anderen Männern. Damit wird sehr elegant das Glaubwürdigkeitsproblem der klassischen Verkleidungs- und Verwechslungskomödie umgangen. Mehr verrate ich nicht.

Wird die inhaltliche Rezeption dieser Inszenierung nicht ohnehin völlig überschattet durch die schwierigen Umstände ihrer Entstehung?

Das fände ich sehr schade. Ich meine trotzdem, dass das Publikum um diese Umstände wissen sollte. Man muss das schon offenlegen, gerade weil das Schicksal von Serebrennikow ja derzeit ein politisches Thema ist. Dennoch möchte ich unbedingt jeden Eindruck vermeiden, dass wir uns da bloss auf eine aktuelle Polit-Geschichte draufsetzen würden. Serebrennikows Kunst soll und kann für sich sprechen.

Anders als die Staatsoper Stuttgart bei «Hänsel und Gretel» deklarieren Sie die «Così»-Inszenierung nicht als fragmentarisches «Work in Progress», sondern als vollgültige Produktion. Ist dennoch eine Revision geplant, sollte Serebrennikow dazu eines Tages wieder in der Lage sein?

Es ist eine vollgültige Produktion, vom ersten bis zum letzten Moment. Es ist eine Kirill-Serebrennikow-Inszenierung durch den Filter der Einstudierung von Jewgeni Kulagin. Im Programmheft wird dessen Rolle, darauf haben wir uns verständigt, als «Umsetzung Inszenierung» gewürdigt werden. Trotzdem wäre es zweifellos sinnvoll, wenn Serebrennikow irgendwann noch einmal selbst Hand anlegen, die Regie im Sinne einer Werkstatt weiterentwickeln und wo nötig ändern würde. Das wünsche ich mir sogar.

Im Rückblick, jetzt kurz vor der Premiere: Würden Sie das Experiment einer Opernneuinszenierung mit einem abwesenden Regisseur noch einmal so machen?

Ich würde es genauso machen, ja. Was wäre denn die Alternative gewesen? Das Ganze war nicht einfach, keine Frage. Aber dafür ist es am Ende eigentlich unerwartet gut gelaufen.