Zwischen Himmel und Hölle – Cecilia Bartoli in der Welt der Kastraten

Die gefeierte Prinzipalin der Salzburger Pfingstfestspiele hat sich in dieser Saison ein besonders delikates Thema ausgesucht: Virtuose Oberflächenreize und erschütternde Einblicke stehen dabei unvermittelt nebeneinander.

Christian Wildhagen, Neapel/Salzburg
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So gebietet man allen Mächten der Stimmen- und der Zauberkunst: Cecilia Bartoli in der Titelrolle von Georg Friedrich Händels «Alcina» in Salzburg. (Bild: Matthias Horn / Salzburger Festspiele)

So gebietet man allen Mächten der Stimmen- und der Zauberkunst: Cecilia Bartoli in der Titelrolle von Georg Friedrich Händels «Alcina» in Salzburg. (Bild: Matthias Horn / Salzburger Festspiele)

Sie spricht unumwunden von der «brutalsten Verirrung in der Geschichte der Musik». Dennoch hat Cecilia Bartoli dem Phänomen jetzt ein ganzes Festival gewidmet, obendrein an prominentester Stelle: «Voci celesti – Himmlische Stimmen» lautete, bewusst mehrdeutig, das Motto der diesjährigen Salzburger Pfingstfestspiele. Sie kreisten um Glanz und Elend der Kastraten.

Ein alter Hut, mag mancher Kenner da denken und voreilig abwinken. Immerhin ist das Thema spätestens seit Gérard Corbiaus Erfolgsfilm «Farinelli» von 1994 weit über Expertenkreise hinaus bekannt. Der Film schildert das Leben des berühmtesten Soprankastraten der Händel-Zeit mit allem barocken Pomp, freilich in arg ästhetisierter Sichtweise, die das Elend dieses seltsamsten aller Sängergewerbe fast vollständig ausblendet. Dabei geben gerade die Schattenseiten dem Thema – zumal unter den Vorzeichen der gegenwärtigen Debatte um das Recht auf körperliche und sexuelle Unversehrtheit in der Kunst – eine ungeahnte Brisanz.

Präsentation der «Instrumente»

Cecilia Bartoli, die soeben ihr Engagement als künstlerische Leiterin der viertägigen Pfingstkonzerte unter dem Dach der Salzburger Festspiele bis 2026 verlängert hat, will das Thema denn auch kritischer und grundsätzlicher angehen. Das ist nicht verwunderlich, denn zum einen hat sie der Musik, aber eben auch dem persönlichen Schicksal der Kastraten schon 2005 und 2008 ihre beiden Konzeptalben «Opera proibita» und «Sacrificium» gewidmet. Vor allem aber gehört es entscheidend zum Selbstverständnis dieser Künstlerin, ihrem jeweiligen Lebens- und Herzensthema mit erschöpfendem Ernst und in immer neuen Annäherungen auf den Grund zu gehen.

So wagte sie sich schon im März bei einer Konzertreise nach Neapel buchstäblich in die Höhle des Löwen – um nicht zu sagen: in die Abgründe der kurzen, scharfen Messer. Tatsächlich liegen Himmel und Hölle wohl in keiner anderen Stadt derart nah beieinander: Im Conservatorio San Pietro a Majella, einer der traditionsreichsten Ausbildungsstätten der musikalischen Welt, werden Schätze aus vier Jahrhunderten aufbewahrt, viele davon ungehoben; nur wenige Gehminuten entfernt zeigt das Museo delle Arti Sanitarie die Original-Hilfsmittel jener «Verirrung», die ebendiese Blüte zum Grossteil hervorgebracht hat.

Philippe Jaroussky (links) verfängt sich in der einstigen Kastratenrolle des Ruggiero in Alcinas Zaubernetzen. (Bild: Matthias Horn / Salzburger Festspiele)

Philippe Jaroussky (links) verfängt sich in der einstigen Kastratenrolle des Ruggiero in Alcinas Zaubernetzen. (Bild: Matthias Horn / Salzburger Festspiele)

Noch heute wird in dem angemessen schaurig und ziemlich baufällig wirkenden Museum vorsichtshalber ein beruhigender Umtrunk gereicht, bevor es an die Präsentation der «Instrumente» geht. Noch erschreckender als der Anblick der primitiven Messer, Quetschen und Zangen sind indes die nackten Zahlen: Zur Blütezeit des Kastratenwahns im 17. und 18. Jahrhundert wurden Jahr um Jahr über 4000 Jungen auf bestialische Weise vor dem Stimmbruch entmannt – die Überlebensrate lag unter fünfzig Prozent. Als Sänger mit den ersehnten «voci celesti» bekannt geworden sind anschliessend einige hundert, zur Unsterblichkeit im Musenhimmel reichte es bloss für ein halbes Dutzend.

Bartoli zieht angesichts solcher Auswüchse eine kühne, aber einleuchtende Parallele zu den Missbrauchsfällen gegenüber Kindern und anderen Schutzbefohlenen in der Kirche und weiteren Institutionen unserer Tage. So gab es auch in den Konservatorien jener Zeit, die ihren Ursprung oft, wie in Neapel, in Waisenhäusern hatten, ein ungutes Machtgefälle, das allen Formen von Missbrauch Tür und Tor öffnete. Zugleich war der Erwartungsdruck, der auf den Zöglingen lastete, mit dem Versprechen von sozialem Aufstieg und Anerkennung verbunden, im besten Fall sogar mit Reichtum und Glamour. «Im Dienste der Kunst wurden diese Kinder geopfert, aber weil viele aus bitterarmen Familien kamen, stand dahinter natürlich auch der Gedanke, mit dem Opfer der Armut zu entfliehen», erläutert Bartoli.

«Sie waren Musen»

Die Sängerin sieht namentlich in der Kirche ein perfides Wechselspiel von Verklärung und Heuchelei am Werk: Einerseits hätten die Kastraten mit ihren «reinen» (weil angeblich geschlechtslosen) Engelsstimmen in der Musica sacra zur höheren Ehre Gottes gesungen und seien dafür gefeiert worden. Andererseits gab es immer wieder Vorstösse von einzelnen Päpsten, die Kastration – zumindest zeitweise – als unethisch und unchristlich zu verbieten.

Fürchtet sie nicht, dass der um sich greifende moralische Rigorismus unserer Zeit eines Tages auch jene Musik verdammen könnte, die einst für die «Evirati» komponiert wurde? Immerhin nimmt die Lust am Verbieten angeblich ethisch verwerflicher Kunstwerke heute wieder erkennbar zu. Cecilia Bartoli sieht diese Gefahr durchaus. Aber in einer Welt, die nur entweder gut oder schlecht, Himmel oder Hölle kenne, gingen die Zwischenwerte und alle Differenzierungen verloren, meint sie.

Genau dieses Changieren macht für Bartoli indes das Menschsein aus – in allen seinen Höhenflügen, aber eben auch in allen Abgründen. «Die Geschichte lehrt uns, dass wir fehlbar sind und fragil», sagt sie. Sogar Schönheit sei eine Art von Kompromiss zwischen oben und unten: «Absolute Schönheit kann fad werden, wenn man nicht auch um die Verlockungen der Hölle weiss.» Zum Glück sei die inhumane Praxis hinter dem Gesang der Kastraten längst beendet, aber zur Wahrheit gehöre eben auch, dass Stars jener Epoche wie Caffarelli, Senesino und Farinelli die Komponisten mit ihren Stimmen zu besonders himmlischer Musik inspiriert hätten – «sie waren deren Musen», erklärt Bartoli. Womit wir beim Kern ihrer diesjährigen Salzburger Pfingstsaison wären.

Virtuosenkost

Mit sicherem Griff hat sie dafür zwei Opern in den Mittelpunkt ihres Programms gestellt, die auf dem Höhepunkt der europaweiten Begeisterung im besonders kastratennärrischen London Premiere hatten. Die eine, Georg Friedrich Händels «Alcina», ist nach 1992 im Zuge der Originalklang-Bewegung geradezu triumphal auf die internationalen Spielpläne zurückgekehrt, 2014 auch in Zürich. Die andere, der ebenfalls 1735 uraufgeführte «Polifemo» von Händels Erzkonkurrenten Nicola Antonio Porpora, ist heute allenfalls noch durch das betörende Arienschmankerl «Alto Giove» bekannt. Damals hingegen war die Wertschätzung genau umgekehrt: Der strauchelnde Händel versuchte mit dem Kastraten Giovanni Carestini alias «Il Cusanino» ein letztes Comeback, nachdem sein Zugpferd Farinelli zu Porporas Opera of the Nobility übergelaufen war.

Der umtriebige Countertenor Max Emanuel Cencic zeigt Porporas gut dreistündige Oper in einer schlichten, aber stimmigen szenischen Adaption in der Felsenreitschule und übernimmt darin selbst die Partie des auf Polyphems Insel gestrandeten Odysseus. Sängerisch muss er das Feld allerdings der hinreissenden Julia Lezhneva (Galatea) sowie seinem jüngeren Counter-Kollegen Yuriy Mynenko als Acis überlassen, der mit dem besagten «Alto Giove» mehr als eine Ahnung vom ätherisch-körperlosen Glanz der originalen Kastratenstimme vermittelt. Der Rest ist über weite Strecken Virtuosenkost, mit von allen Beteiligten atemberaubend gemeisterten Koloraturkaskaden und weiteren Kunststücken, kompositorisch freilich allenfalls zweitklassig.

Entzauberungen

Indes hat es das Stück im Vergleich mit der überwältigenden «Alcina»-Produktion im Haus für Mozart doppelt schwer. Bartoli singt selbst die Titelpartie – eine ihrer Paraderollen – und hat sich für die ehemalige Cusanino-Rolle des Ruggiero den überragenden Philippe Jaroussky an die Seite geholt; mit Sandrine Piau als Morgana und Kristina Hammarström als Bradamante an der Spitze ist auch das übrige Ensemble einzigartig hochkarätig besetzt.

Unter dem rhetorisch geschärften Dirigat von Gianluca Capuano am Pult der Musiciens du Prince-Monaco erzählen sie in der bildstarken, schlüssigen Regie von Damiano Michieletto die Geschichte jener Zauberin Alcina, die erkennen muss, dass ihre Macht über die Herzen der Menschen ein Ende hat. Bartoli macht daraus das erschütternde Porträt einer alternden, tragisch einsamen Frau. Das wirkt, namentlich in ihrer finalen Selbstentzauberung «Mi restano le lagrime», derart berührend uneitel, dass alles noch Folgende unbeabsichtigt unter leisen Vanitas-Verdacht gerät.

Ausgezaubert: Alcina (Cecilia Bartoli) begegnet in den Abgründen der Seele ihrem wahren Ich. (Bild: Matthias Horn / Salzburger Festspiele)

Ausgezaubert: Alcina (Cecilia Bartoli) begegnet in den Abgründen der Seele ihrem wahren Ich. (Bild: Matthias Horn / Salzburger Festspiele)

Vor allem die als Festivalhöhepunkt gedachte Gala «Farinelli & Friends» am nächsten Abend wirkt unter diesen Vorzeichen reichlich zirzensisch, obschon sie – wiederum unter der inspirierenden Leitung von Capuano – schlichtweg alles versammelt, was derzeit in der Alten-Musik-Szene Rang und Namen hat. Nur leider verschenkt der munter kalauernde Rolando Villazón als Moderator jede Chance, das Thema annähernd so ernsthaft und tiefsinnig zu durchdringen wie die Prinzipalin selbst. Womöglich bringt er den Oberflächenglanz des flüchtigen Kastratenzaubers allerdings gerade dadurch auf den Punkt.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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