Bregenzer Festspiele: Ein kühler Rechner hält die grösste Seebühne der Welt über Wasser

Wegen der Corona-Krise mussten die Bregenzer Festspiele am Bodensee abgesagt werden. Der kaufmännische Direktor Michael Diem erzählt, wie er mit beruflichen und persönlichen Krisen umgeht.

Gerald Hosp, Bregenz
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Michael Diem zuckt entschuldigend mit den Schultern. Eigentlich wären der Juli und der August quirlige Monate im Kalender des kaufmännischen Direktors der Bregenzer Festspiele. Das Eingangsfoyer des Festspielhauses in der österreichischen Stadt nahe zur Schweizer und zur deutschen Grenze brüllt jedoch vor lauter Leere, als man sich Mitte Juli am Vormittag trifft. Das Prunkstück des Sommerfestivals, die Bühne auf dem Bodensee, findet das Interesse vereinzelter Touristen. Der riesige Kopf des Hofnarren Rigoletto, der die Szenerie dominiert, wirkt noch trauriger als sonst. Die Corona-Krise hat dem Festspielbetrieb auf der grössten Seebühne der Welt einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Michael Diem ist seit 2008 der kaufmännische Direktor der Bregenzer Festspiele.

Michael Diem ist seit 2008 der kaufmännische Direktor der Bregenzer Festspiele.

Mathis Fotografie

«Schmerzvolle Absage»

Mitte Mai mussten die Verantwortlichen die Festspiele absagen, die seit 1946 ununterbrochen stattgefunden haben. Stattdessen gibt es im August ein abgespecktes Sonderprogramm unter dem Namen Festtage, eine Art künstlerisches Lebenszeichen. In Österreich dürfen Grossveranstaltungen mit bis zu 1250 Personen abgehalten werden. Das ist zu wenig, um den teuren Betrieb der 7000 Besucher fassenden Seebühne wirtschaftlich zu gestalten. «Die Absage war schmerzvoll», sagt Diem, zumal der Kartenvorverkauf für den Verdi-Klassiker «Rigoletto» der beste aller Zeiten war.

«Bis Mitte Mai haben wir eine Doppelstrategie verfolgt. Wir haben so getan, als ob die Festspiele stattfinden würden. Parallel dazu haben wir Massnahmen gesetzt, um Umbuchungen und Geldrückgaben schnell abzuwickeln», sagt der Herr über ein jährliches Budget von 30 Mio. €. Dabei freut es ihn, dass rund die Hälfte der für die diesjährige Saison erstandenen Karten für kommendes Jahr umgetauscht wurde. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass in der nächsten Saison abermals «Rigoletto» auf dem Spielplan steht. Eigentlich war «Madama Butterfly» von Giacomo Puccini vorgesehen. Diese Neuproduktion wird jetzt um ein Jahr verschoben, was ein Problem für sich darstellt, weil die grossen Aufträge dafür bereits vergeben wurden.

Für die kommende Saison baut Diem auch auf die Gäste aus dem Westen: «Wir sind fast schon ein Schweizer Festival», meint er verschmitzt. Rund 30 000 der knapp 250 000 Besucherinnen und Besucher kamen im vergangenen Jahr aus der Schweiz. Zudem seien die Schweizer Frühbucher, überliessen nichts dem Zufall und seien einen hohen Standard gewohnt. Alles Eigenschaften, die einem kaufmännischen Direktor das Herz aufgehen lassen.

«Einstiegsdroge» für die Opernwelt

«Man kann schon behaupten, dass ich ein kühler Rechner bin, der aber Entscheidungen aus dem Bauch heraus trifft», sagt Diem. Der 50-jährige Vorarlberger ist kein Zerrbild eines Zahlenmenschen. Vielmehr blitzt Begeisterung auf, wenn das Gespräch auf die Zusammenarbeit mit den Künstlern und der künstlerischen Leitung der Festspiele kommt. Gegenseitige Wertschätzung und Professionalität auf beiden Seiten sei der Kitt, der alles zusammenhalte.

Früher seien Kultur und Management oft als ein Gegensatzpaar verstanden worden. Für die Bregenzer Festspiele habe dies aber nie gegolten. In internen Diskussionen argumentiere gar die Intendantin Elisabeth Sobotka häufig wirtschaftlich, während er auch künstlerische Aspekte vorbringe.

Der Musikgeschmack von Diem ist auf alle Fälle über die Zeit breiter geworden. Als ihn seine jetzige Frau zum 25. Geburtstag zu seinem ersten Opernbesuch, natürlich auf der Seebühne, eingeladen hatte, ist er den Verdacht nie losgeworden, dass sie sich selbst beschenkt hatte. Pop und Rock waren damals seine Welt. Die Bregenzer Festspiele verstehen sich auch als «Einstiegsdroge» für die Opernwelt; bei Diem hat sie gewirkt.

Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre und dem Militärdienst in Innsbruck hatte sich Diem 1997 für die neu geschaffene Stelle eines Controllers bei den Festspielen beworben. Ihn reizte das Ausloten von Grenzen, zumal er sich auf Verwaltungsmanagement spezialisiert hatte. Eine Art künstlerische Ader reklamiert er dann doch noch für sich: Während des Studiums habe er viel im elterlichen Handwerksbetrieb, einem Raumausstattergeschäft in Dornbirn, mitgearbeitet. Die bodenständige Handwerkskunst hat ihm das Verständnis für die Bühnenausstattung erleichtert.

Der Vater zweier Kinder stieg später zum Leiter des Rechnungswesens auf. Seit 2008 ist er Geschäftsführer zweier Unternehmen: das eine betreibt die Bregenzer Festspiele, das andere ist für die Vermietung des Festspielhauses an Dritte verantwortlich.

Krisen und Sicherheitsnetze

Dass das Leben nicht nur ein Festival ist, musste Diem vor gut drei Jahren am eigenen Leib erfahren: Er hatte einen Schlaganfall, der relativ glimpflich verlief. Seine Ärztin gab ihm den Rat, zu hinterfragen, ob das, was er mache, das Richtige sei – oder ob es Zeit für eine Veränderung sei. Er ging in sich und entschied sich bewusst dafür, weiterzumachen. «Ich empfand meine berufliche Situation als attraktiv und gereift», meint Diem.

Ob ihn seine Erfahrung mit dem Schlaganfall in der Corona-Zeit gelassener gemacht habe? Das könne er nicht sagen, das müssten andere beantworten, sagt er. Der Begriff der Achtsamkeit fällt jedoch auffällig häufig im Gespräch über den Umgang mit der Corona-Krise.

Dazu gehört auch – jetzt spricht wieder der Kaufmann –, dass die Bregenzer Festspiele auf Rücklagen zurückgreifen können, um die Verluste in diesem Jahr auszugleichen. Üblicherweise werden mit den Karten- und sonstigen Einnahmen rund zwei Drittel der Ausgaben bestritten, der Rest sind Subventionen und Sponsorengelder. Zusätzliche Staatshilfen, abgesehen von der Nutzung der Kurzarbeitregelung, gibt es in diesem Jahr nicht.

Wie hilfreich ein Sicherheitsnetz ist, zeigte sich schon in der Saison 2011/12, als die Festspiele mit der relativ unbekannten Oper «Andrea Chénier» von Umberto Giordano auf der Seebühne aufwarteten. Die Aufführungen waren zwar ein künstlerischer Erfolg und steigerten die Reputation der Festspiele, sie waren aber ein wirtschaftlicher Flop. Die umsichtig angelegten Rücklagen wurden aufgebraucht, und mit Mozarts «Zauberflöte» ging man in der nächsten Saison auf Nummer sicher. Das kühle Rechnen kam zurück.

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