Wilde Gefühlsoper in Salzburg: Aušrinė Stundytė, die Salzburger Elektra, dahinter Franz Welser-Möst als Teil der Inszenierung.

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Die Touristenströme, sie plätschern dieser Tage wieder munter, aber zivilisiert durch die Gassen der Salzburger Altstadt: Der Overtourism meldet sich leise zurück. In der Felsenreitschule aber zischt es aus dem Orchestergraben, es brodelt und blubbert.

Akute Lebensgefahr! Denn Richard Strauss hat mit seiner Elektra ein giftiges Gebräu komponiert, in dem die Süßwasser der Spätromantik und die Salzwasser der Moderne aneinandergeraten und wild aufschäumen. Franz Welser-Möst ist es, der den berauschenden Klangtrunk anrühren darf, für die 83. Opernpremiere seiner Karriere stehen dem Routinier die Wiener Philharmoniker als hundertköpfige Helferschar zur Seite. Ist Strauss’ Elektra, so fragt man den Österreicher im Zwiegespräch, ist dieses Musikprotokoll einer Besessenheit, diese Achterbahnfahrt durch die psychischen Innereien der Titelfigur für Dirigenten und Orchester die Tour de Force, nach der sie für den Zuhörer klingt?

Hat man Fett angesetzt?

Das sei sie. Abgesehen von den spieltechnischen Herausforderungen wären die blitzschnellen Heiß-kalt-Wechsel eine echte Schwierigkeit, erklärt Welser-Möst und vergleicht sie mit "einem Hasen, der ständig Haken schlägt". Ist der Hase denn in Form, oder hat er in der Corona-Pause Fett angesetzt? Kein Gramm, beteuert der ehemalige Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper sinngemäß.

Die Philharmoniker "kennen die Oper gut, da gab es keinen großen Unterschied zu den Salome-Proben im letzten Jahr". Eine positive Auswirkung der Generalpause zwischen März und Mai stellt er aber fest: "Die Spielfreude des Orchesters ist unglaublich! Man muss sie manchmal sogar einbremsen."

Sehr moderat

Seit dem Salzburger Rosenkavalier 2014 sind der Wiener Klangkörper und Welser-Möst seiner Beschreibung nach "ein Herz und eine Seele". Die Anfänge der Zusammenarbeit anno 1999 beschreibt der 59-Jährige aber als "sehr moderat. Es war keine Liebe auf den ersten Blick, überhaupt nicht." Die Zusammenarbeit mit Aušrinė Stundytė, der Salzburger Elektra, kam eher überraschend zustande. Eine prominente Sängerin musste die Partie zurücklegen, und Welser-Möst ließ das Festspielbüro nach einer Sängerin suchen, "die in den letzten zwei Jahren die Lady Macbeth von Mzensk und die Tosca gesungen hat".

Die Festspiele fanden Stundytė, diese sang dem Dirigenten den Schlussmonolog der Salome vor und ward engagiert. Waren die vielen Vorproben mit der Litauerin eine Bedingung von ihm an die Festspiele? "Ja, aber auch eine von ihr!", stellt Welser-Möst fest.

Mit Asmik befreundet

Stundytė sei mit Asmik Grigorian, der Salzburger Salome, befreundet und hätte also "gewusst, was da möglich ist". Überhaupt möchte er die intensiven Probemöglichkeiten, die ihm Festspiele wie die Salzburger ermöglichen, nicht mehr missen. "Ich bin von zwei großen Opernhäusern angefragt worden, ob ich Chef werden möchte. Ich habe Nein gesagt." Zusammen mit Stundytė und Regisseur Krzysztof Warlikowski will er eine "verletzliche, zerbrechliche" Elektra zeigen.

Die litauische Sopranistin präzisiert ihre differenzierte Sicht der gern nur als Rachemonster gezeichneten Figur: Elektra sei "fanatisch liebend ihres Vaters Tochter", hingegen "kalt und überlegen" zu ihrer Mutter Klytämnestra.

Ihrer Schwester Chrysothemis gegenüber agiere sie "zynisch, manipulativ, aber irgendwie ungeschickt liebend", beim Zusammentreffen mit ihrem Bruder Orest würde sie "sanft und zerbrechlich", Aegisth hingegen behandle sie "falsch und doppelzüngig".

Nichtsdestoweniger sei der Hass auf Aegisth und Klytämnestra für Elektra "wie die Luft, die man atmet". Nachdem "die Tat vollbracht ist, stirbt sie – ihre ‚Luft‘, der Hass, ist ausgegangen." Mittlerweile hat der Terrassentalk zur Elektra begonnen, mit halbstündiger Verspätung trifft auch Regisseur Krzysztof Warlikowksi ein und bringt ein Momentum existenzialistischer Beladenheit in die Sommerabendstimmung ein – die Schatten des sumpfig-kühlen Mönchsbergs beginnen sich über die professionelle Plauderrunde zu legen.

Das Vorleben einer Familie

Zerfurcht und glühend zugleich, schildert der filigrane Regisseur seine Intention, auch die Vorgeschichte des Dramas mitzuerzählen, Vergangenheit und Gegenwart zu vermischen. Die Opernbesucher sollen flashartige Einblicke in das (Vor-)Leben dieser schrecklich dysfunktionalen Familie bekommen. Im Gegensatz zur fluchbeladenen, zerstrittenen Atridensippe wird vom Königspaar der Salzburger Festspiele, Helga Rabl-Stadler und Markus Hinterhäuser, trotz widriger Umstände ein harmonisches Miteinander vorgelebt. Ist die rührige Präsidentin "das Herz der Salzburger Festspiele", wie es der ehemalige Philharmoniker-Vorstand Clemens Hellsberg einmal formuliert hat?

Gerne Pläne wälzen

"Ich nenne sie die Löwin von Salzburg", stellt Welser-Möst fest. "Sie hat die Festspiele durchgekämpft." Und Hinterhäuser: Ist er das Hirn, der Feingeist der Sommerspiele? Der Dirigent stimmt zu. "Ich liebe es, mit ihm Pläne zu wälzen. Wir sitzen dann in seinem Büro und reden ohne Ende." Das sei sehr beglückend.

Könnte man Rabl-Stadler trotz langer Amtszeit als Puck in Shakespeares "Sommernachtstraum" besetzen, so erinnert Hinterhäuser im Hintergrund des Terrassengesprächs an einen französischen Romancier, der ein paar Freunde auf sein Landgut geladen hat.

"Wir sind alle Buddhisten geworden", kommentiert der Intendant lächelnd eine Corona-konforme Abschiedsgeste. Sein Wort in Gottes Ohr? Vielleicht ist ja eine interkonfessionelle Umarbeitung des "Jedermann" für den nächsten Sommer schon in Arbeit. (Stefan Ender, 29.7.2020)