Jeden Abend eine neue Welt in der Wiener Staatsoper.
Foto: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Die neue Saison der Gesamtkunstwerkstatt Wiener Staatsoper in Stichworten:
über Dirigenten als Instagram-Sonnenkinder, vokale Glanzfiguren, Premieren und natürlich über Tabakwaren

Auftakt Anna Netrebko zur Saisoneröffnung als Mimì in Puccinis La Bohème: Dieser Aufreger war ursprünglich nicht geplant. Eigentlich hätte der russische Weltstar mit österreichischem Pass und Wohnsitz erst im Jänner 2023 als Aida an die Staatsoper zurückkehren sollen, an der Seite von Jonas Kaufmann und Elīna Garanča: die Stars der Generation 50 plus im Dreierpack. Nun wird es am 5., 11. und 18. September wohl nicht nur während der Vorstellung emotional werden, sondern auch davor und danach – erhitzt doch Anna Netrebkos späte Verurteilung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine nach wie vor die Gemüter.

Asmik Grigorian ist in Janáčeks "Jenůfa" zu hören.
Foto: Algirdas Bakas

Alexander Soddy Nach 22 Jahren des beruflichen Besuchs erstklassiger Opernaufführungen klebt am Bücherregal des Musikberichterstatters exakt eine Eintrittskarte: Wiener Staatsoper, 2. Oktober 2020, Salome. Eine Repertoirevorstellung, in die man ohne große Erwartungen reingegangen war, und dann das: eine Verbindung zwischen Orchester und Dirigent wie zwischen Welle und Meer, mit einem Fluidum der energetischen Extraklasse. Der Name des Dirigenten: Alexander Soddy, Generalmusikdirektor des Nationaltheaters Mannheim. Jetzt kommt der Brite wieder, zu einer Zauberflöten-Serie im Dezember. Und für die Wiederaufnahme von Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk (Mai/Juni 2023) bekommt der 39-Jährige sogar Proben: Bravo!

Tenor Jonas Kaufmann schmachtet Verdis Aida an.
Foto: APA / HERBERT NEUBAUER

Goldberg-Variationen Johann Sebastian Bachs im Jahr 1741 veröffentlichte Clavier-Übung bestehend in einer Aria mit verschiedenen Veraenderungen kennt nicht erst seit Glenn Goulds Aufnahmen jeder Musikinteressierte. Das 80-minütige Variationswerk wurde im Lauf der Jahrhunderte nicht nur zu einem Synonym für Kontemplation und höchste Kunstfertigkeit, sondern auch zur Inspirationsquelle für zahlreiche Kunstschaffende. Der Schweizer Choreograf Heinz Spoerli, dereinst Ballettdirektor des Staatsopern-Ballettdirektors Martin Schläpfer, deutete es 1993 als "Tanzdrama über den Menschen" und seine diversen Zustände. Zusammen mit Arvo Pärts Tabula Rasa, von Ohad Naharin choreografiert, werden die Goldberg-Variationen als zweite Premiere des Wiener Staatsballetts ab Ende April 2023 gezeigt.

Anna Netrebko kehrt als Mimi an die Staatsoper zurück.
Foto: Wiener Staatsoper / Barbara Zeininger

Große Stimmen Klaus Florian Vogt singt den Lohengrin so hell und rein wie sonst keiner, speziell das darin enthaltene Wort "Taube". Das macht ihm keiner nach, mal sehen, wie das der ebenfalls Bayreuth-erprobte Piotr Beczała bewältigt, der in dieser Saison (im April 2023) den Schwanenritter gibt. Vogt singt stattdessen in Wagners Siegfried den Siegfried (im Juni 2023). Benjamin Bernheim wiederum ist im Jänner 2023 als Rodolfo in La Bohème zu erleben. Zuvor singt der Franzose im Oktober den Duca di Mantua in Verdis Rigoletto; an seiner Seite kann Simon Keenlyside in der Titelpartie ehemalige Premierentraumata verarbeiten. Asmik Grigorian hat in Salzburg in Puccinis Il trittico Triumphe gefeiert, an der Wiener Staatsoper ist die Sopranistin im Oktober bei der Wiederaufnahme von Janáčeks Jenůfa zu erleben sowie zum Ende der Spielzeit im Verismo-Doppelpack Cavalleria rusticana / I Pagliacci als Santuzza und Nedda. Ebenfalls beehrt Sonya Yoncheva das Haus: in der Titelpartie von Puccinis tragischer Madama Butterfly. Die hochdramatische Nina Stemme liebt wiederum als Isolde (im Februar 2023) und hasst als Elektra (im Jänner 2023).

Elīna Garanča ist in Verdis "Aida" zu erleben.
Foto: imago images / ZUMA Press

Lorenzo Viotti Natürlich wurde der Dirigent aufgrund seiner professionellen Qualitäten zur Leitung der außergewöhnlichen Mahler-Produktion Ende September verpflichtet, und nicht weil sein viel zu früh verstorbener Vater Marcello an der Staatsoper für prägende Tosca-Dirigate verantwortlich zeichnete oder weil er ein ziemlicher Feschak ist. Ist er aber. Wenn man ihm wie 101.000 andere auf Instagram folgt (@lorenzoviotti), dann ist man nicht nur von seiner Vorliebe für breitkrempige Stoffhüte angetan, sondern von irgendwie allem. Der Chefdirigent der Oper von Amsterdam inszeniert sich dort als Spaßmacher, als Sportler und als Sonnenkind. Viotti schleppt Baumstämme auf einem Spartan-Race, oder er hüpft mit seinem Spezi, dem Klarinettisten Andy Ottensamer, am Mittelmeer in einen Pool. Mit Bruder Alessandro brettert der 32-Jährige im Lamborghini herum und schmettert dabei Arien, wenn er nicht auf einem roten Teppich im weißen Smoking bella figura macht. Zuletzt schwärmte Viotti auf Insta über Mahlers Frühwerk Das klagende Lied – naturalmente ganz leger im Trägerleiberl.

Lorenzo Viotti dirigiert die kühne Mahler-Premiere.
Foto: imago images / Independent Photo A

Mahler Vor 125 Jahren hat Gustav Mahler sein Amt als Direktor des k. k. Hofoperntheaters angetreten, der legendäre Musiker steht denn auch im Zentrum der kommenden Saison. Hier drei Zitate Mahlers. Zum Orchester: "Was ihr Tradition nennt, ist meistens Schlamperei." Zur Menschheit: "Man ist sozusagen nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt." Zu den Mitarbeitern der Oper bei seiner Demission nach zehn Jahren im Amt: "Statt eines Ganzen, Abgeschlossenen, wie ich geträumt, hinterlasse ich ein Stückwerk, Unvollendetes, wie es dem Menschen bestimmt ist."

Kate Lindsey ist Monteverdis barocke Penelope.
Foto: Rosetta Greek

Premieren Ungewöhnlich die erste Premiere: Calixto Bieito setzt zwei konzertante Werke Gustav Mahlers in Szene, die frühe Märchenkantate Das klagende Lied sowie die Kindertotenlieder; Lorenzo Viotti dirigiert. (29. 9.) Im Dezember inszeniert Keith Warner Wagners Die Meistersinger von Nürnberg unter der Leitung von Philippe Jordan. (4. 12.) Der Musikdirektor des Hauses dirigiert auch die nächste Premiere: Richard Strauss’ Salome, in Szene gesetzt von Cyril Teste. (2. 2.) Im März setzen Jordan und Regisseur Barrie Kosky mit Mozarts Le nozze di Figaro ihren im Vorjahr begonnenen Da-Ponte-Zyklus fort. (11. 3.) Die Premiere von Il ritorno d’Ulisse in patria (mit Kate Lindsey, Regie: Jossi Wieler und Sergio Morabito) beschließt den dreiteiligen Monteverdi-Zyklus der Staatsoper. (2. 4.) Und Francis Poulencs Dialogues des Carmélites (Dirigent: Bertrand de Billy, Inszenierung: Magdalena Fuchsberger) beschließt am 21. 5. den Premierenreigen der Saison 2022/23.

Schnupftabak Nachdem sich der Mesmer in Puccinis Oper Tosca zu Beginn über die schmutzigen Pinsel Cavaradossis beklagt hat, nimmt er zwei Prisen Schnupftabak. Bei den Aufführungen an der Staatsoper ist es üblich, dass die Orchestermusiker, meist die Kontrabassisten, die beiden Schniefgeräusche mitmachen. Zusammen mit den Weihrauchschwaden, die beim Einzug in die Kirche Sant’Andrea della Valle in den Zuschauerraum wehen, einer der vielen unvergesslichen Momente in Margarete Wallmanns hoffentlich unter Denkmalschutz stehender Tosca-Inszenierung, die in dieser Saison zehnmal gezeigt wird.

Piotr Beczała ist in Wagners "Lohengrin" zu hören.
Foto: Anja Frers & DG

Tschick Nein, das ist kein Sponsoringprojekt eines großen Tabakkonzerns und auch kein Musiktheaterstück über die Gefahren des Rauchens. Tschick ist der Titel des bekannten Jugendromans von Wolfgang Herrndorf, den Ludger Vollmer (Musik) und Tina Hartmann (Text) zu einer Road-Opera für Jugendliche ab 13 Jahren umgeformt haben. Zu mal rockig-grellen, mal jazzigen, mal atonalen Klängen brettern der 14-jährige Maik und sein Freund Tschick des Sommers im geklauten Lada von Berlin aus in den wilden Osten und machen dabei liebsame und unliebsame Bekanntschaften und Erfahrungen. Ab Mitte Dezember an der Staatsoper.

Zahlen 232 namhafte Künstlerinnen und Künstler sind in der Saison 2022/23 auf der Bühne der Wiener Staatsoper solistisch zu erleben. 330 Mitglieder des Orchesters, der Bühnenmusik, des Chors und des Balletts machen von Anfang September bis Ende Juni fast Abend für Abend Aufführungen von 48 verschiedenen Opern und acht Ballettstücken möglich. Sieben Solisten- und Solistinnenkonzerte, sechs Ensemblematineen, vier Studiokonzerte und zehn Kammermusikkonzerte der Wiener Philharmoniker ergänzen das doch ziemlich üppige Angebot. (Stefan Ender, 2.9.2022)

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Wild ging es beim "Don Giovanni" zu. Wie dynamisch die neuen Premieren werden, muss sich aber erst weisen.
Foto: Pöhn

Worauf wir uns diese Saison freuen!

Man weiß ja nie, wie es wird. Auch bei Opern- und Tanzpremieren gilt der Spruch, wonach Prognosen schwierig seien, "besonders, wenn sie die Zukunft betreffen". Dennoch darf man sich auf Premieren freuen. Und dies tun mitunter auch Rezensenten und Rezensentinnen.
Aber lesen Sie selbst!

  • Miriam Damev: "Figaro", heitere Utopie

Als am Abend des 27. April 1784 das adelige Publikum in die Comédie Française strömte, um der Uraufführung der Komödie La folle Journée ou Le Mariage de Figaro beizuwohnen, ahnten die Damen und Herren nicht, dass sie Zeugen eines der verrücktesten Tage in der französischen Theatergeschichte werden sollten. Endlich war es Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais nach langwierigen Kämpfen mit der Zensur gelungen, den revolutionären Stoff an die Öffentlichkeit zu bringen.

Auch im josephinischen Wien war Beaumarchais’ Drama längst in allen Salons verbreitet, als Mozart es in die Hände bekam. Er erkannte in der Geschichte rund um die heuchlerische Falschheit des Grafen, der öffentlich dem feudalen "Recht der ersten Nacht" entsagt, es aber bei seiner Untergebenen Susanna, die kurz vor der Hochzeit mit ihrem Figaro steht, ganz unverhohlen einfordert, das Potenzial für einen gelungenen Opernplot.

Es war die erste und einzige Oper, die Mozart ohne Auftrag komponierte: ziemlich mutig, wenn man bedenkt, dass der Kaiser den Figaro als Schauspiel kurz davor verboten hatte. Am 1. Mai 1786 wurde Le nozze di Figaro im Wiener Hoftheater unter der Leitung des Komponisten und im Beisein Kaiser Joseph II. uraufgeführt. Die Reaktionen waren durchwachsen, und nach nur neun Aufführungen wurde die Oper wieder abgesetzt. Der Siegeszug folgte erst 100 Jahre später.

Da erwartet man die kommende Premiere in der Regie von Barrie Kosky mit einer gewissen Spannung: Figaro ist eine großartige Parabel auf zwei Grundprinzipien, die unser Leben bestimmen: Liebe und Macht. Mozart schuf Charaktere, die mit menschlichen, allzu menschlichen Problemen kämpfen: offenes und geheimes Begehren, Sehnsüchte und gesellschaftliche Niederlagen.

Natürlich ist Figaro auch eine geniale Komödie mit Heiratsverträgen, Verkleidungen und Verwechslungen, Missverständnissen und Blamagen. Doch wenn am Ende der Oper Contessa, perdono erklingt und der entlarvte Graf vor seiner Frau auf die Knie fällt, schenkt uns Mozart einen Augenblick wahrhafter Versöhnung. 11. 3. 2023

  • Ljubiša Tošić: "Von der Liebe Tod", Mahlers Oper

Betrachtet man die Spielpläne großer Opernhäuser unserer Welt, ist vom Triumph der Geschichte über die Gegenwart zu sprechen. Es dominieren die essenziellen Werke, die bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein der Tonalität huldigten und sich etablierten.

Erneuerung in der Oper? Sie betrifft den Einzug echter Neuschöpfungen in den Opernalltag in sehr begrenztem Ausmaß. Erneuerung wurde an das Regiefach delegiert, sie soll den Wesenskern einer Oper für das jeweilige Heute offenlegen. Und das ist natürlich eine sehr wichtige Angelegenheit!

Auf der Suche nach neuen Formaten und Ausdruckbereichen hat die Opernszene in einem weiteren Kunstgriff längst auch barocke Oratorien und Liederzyklen auf die Musiktheatercouch gelegt. Auch Gustav Mahlers Lied von der Erde wurde bereits musiktheatralisch neu befragt, was bei der Vielfalt der Emotionen und Mahlers psychologischer Feinzeichnung seinen Reiz hat.

Nicht logisch ist, dass Mahler, der Welterschaffer und symphonische Seelenforscher, keine Oper geschrieben hat. Obwohl er in seine Werke vokale Elemente stark integrierte, kam er über die unvollendeten Jugendversuche Die Argonauten und Rübezahl nicht hinaus.

Warum, bleibt ein Rätsel. Wenn nun die Wiener Staatsoper Mahlers Märchenkantate Das klagende Lied und die Kindertotenlieder in die originellen Hände des katalanischen Regisseurs Calixto Bieito legt, um den Opernabend Von der Liebe Tod zu formen, werden Rätsel und Verwunderung womöglich noch größer werden.

Freuen darf man sich aber auf diese Spekulation, diesen Operntraum, den der 19-jährige Mahler wohl hatte, als er Das klagende Lied im Bewusstsein des prägenden Opernwerks von Richard Wagner schrieb. 29. 9.

  • Stefan Ender: Seltsame und angebetete "Salome"

Sie ist eine Frau, die weiß, was sie will: "Ich will den Kopf des Jochanaan." Und damit die Sache klar ist: "Zu meiner eignen Lust will ich den Kopf." Spätestens da scheint evident zu sein, dass die schöne Salome einen ziemlichen Sprung in der Schüssel hat. Ein klarer Fall von toxischer Weiblichkeit: impulsiv, manipulativ, obsessiv.

Aber ist Salome wirklich nur die verwöhnte Prinzessin, die durchdreht, weil sie ausnahmsweise mal bei einem Mann abgeblitzt ist? Zu Beginn der Oper ist die junge Frau jedenfalls eine zweifach Angebetete: Ihr Stiefvater Herodes betrachtet sie gierig und zwanghaft "mit seinen Maulwurfsaugen". Und auch Hauptmann Narraboth, der schöne Syrer, betet Salome an. Doch dann wird aus dem Objekt der Begierde plötzlich eine Begehrende – mit fatalen Folgen.

Klar: Diese Oper ist der absolute Hammer. 100 Minuten Spannung pur wie in einem Psychothriller von Hitchcock. In der Vollmondnacht von Judäa liegt Unheil in der Luft, es verdichtet sich zu einer rabenschwarzen Gewitterfront, das am Schluss zu einer gewaltsamen Entladung kommt. Strauss zieht alle Register seines Könnens, die Musik wechselt wie im Fieberwahn von prunkender, überquellender Fülle zu zarten Zauberklängen, von schwärmerischer Emphase zu Brutalität, von flirrender, schwebender Transparenz zu trippelnder, wuselnder, stichelnder Unruhe.

Der Komponist hat Salome die Klarinette zugeschrieben, sie agiert weich und wendig wie eine Katze; für Jochanaan wählte er die güldene Majestät der Hörner. So disparat die beiden zu sein scheinen, eint die Prinzessin und den Propheten doch ihre Radikalität.

Strauss veranschaulicht das, indem er in Leitmotiven beider Figuren das gleiche Intervall verwendet, die fallende Quart. Doch während Salome ihre Ansichten immer wieder kippschalterartig ändert, sind die des misogynen Jochanaan zu festem Erz geronnen. Der Crash der beiden Extremisten endet für beide tödlich. Spannend wird zu sehen sein, wie Dirigent Philippe Jordan und Regisseur Cyril Teste den Einakter gestalten werden. 2. 2. 2023

  • Daniel Ender: Heikle "Meistersinger"

Die nationalchauvinistische Botschaft des Stücks darf man unerträglich finden, zumal Richard Wagners in seinen Meistersingern von Nürnberg auf Nummer sicher geht und Hans Sachs in dessen Schlussmonolog nicht nur fordern lässt: "Ehrt eure deutschen Meister …", sondern daran auch die Warnung vor "welschem", also romanisch-südländischem, "Tand" und "Dunst" anschließt.

Die antisemitischen Ressentiments – um ein gelindes Wort zu verwenden – des Komponisten wurden viel diskutiert und erzeugen in zwei polarisierenden Lagern bis heute geradezu Pawlow’sche Reaktionen. Fakt ist, dass die von Wagner verwendete Quelle (Johann Christoph Wagenseils Nürnberg-Chronik) die überstrengen Regeln der traditionsliebenden Meistersinger unmittelbar auf den Talmud zurückführte.

Fakt ist außerdem, dass der Name des Feindbilds Beckmesser zum Synonym für den krampfhaft nach Fehlern suchenden, selbst künstlerisch unfruchtbaren (Musik-)Kritiker werden sollte – und dass die Figur ursprünglich mit seinem Namen direkt auf den Wiener Kritiker Eduard Hanslick verweisen sollte. Die Prügelfuge ist Ausdruck des Hasses auf diesen Gegner.

Man kann das Stück dennoch genießen, sich an seinem köstlichen Humor erfreuen, an der innigen Zuneigung. Vor allem aber ist es ein Plädoyer für die Freiheit der Kunst, die Abkehr von der blinden Befolgung der Regeln, ein Schuss vor den Bug all jener, die meinen, sie wüssten, wie es gehe. Auch die Meister werden eines Besseren belehrt und müssen jemanden akzeptieren, der von außen kommt. Wie immer – und hier noch etwas mehr – kommt es auf die Umsetzung an.

Ein Dirigent wie Philippe Jordan lässt ebenso auf eine reflektierte Interpretation hoffen wie der Regisseur Keith Warner mit seinen psychologisch versierten Deutungen. Und als Hans Sachs wird Michael Volle, wenn er agiert wie einst in Bayreuth, seinen Text so doppelbödig und zweifelnd artikulieren, dass man Richard Wagners Botschaften mit einer gewissen Distanz wahrnehmen kann. 4. 12.

  • Helmut Ploebst: "Dornröschen", wo frau erwachsen wird

An den alten Märchen ist schon viel herumgenörgelt worden. Zu grausam, alte Klischees, sentimentaler Kitsch und so weiter. Verschwunden sind diese Geschichten erfreulicherweise trotzdem nicht. Im Ballett kommt dem Dornröschen eine ganz besondere Rolle zu. Das 1890 in Sankt Petersburg uraufgeführte Stück wurde zum zweiten Mega-Klassiker nach Schwanensee und gehört auch nach mehr als 130 Jahren zu den Repertoire-Musts jeder großen Compagnie. Die großartige Musik stammt von Tschaikowski, die Originalchoreografie schuf Marius Petipa.

Für das Wiener Staatsballett wagt jetzt Martin Schläpfer eine Neuinterpretation, der man durchaus mit Spannung entgegensehen kann, denn es braucht echtes Fingerspitzengefühl für ein gegenwartsorientiertes Arbeiten an Klassikern des romantischen Spitzentanzes. Außerdem ist das Spektrum an Möglichkeiten so breit, wie die Geschichte von Rekonstruktionen und Bearbeitungen lang ist. Dieses Risiko zündet und steigert die Vorfreude auch des Kritikers.

Schläpfer interessiert sich für die Geschichte über das Erwachsenwerden der Protagonistin Aurora und den durch die Feen symbolisierten Einbruch der Widersprüche des Erwachsenseins. Er will einen neuen Blick auf das Königspaar als Eltern der Aurora werfen, den Zeitsprung des 100-jährigen Schlafs im Schloss mehr berücksichtigen – und die Prinzessin soll, anders als im Märchen oder bei früheren Dornröschen-Versionen, ihren Prinzen selbst wählen können. Zur Premiere an der Wiener Staatsoper tanzt Hyo-Jung Kang die Aurora, Olga Esina ist die Königin, Marcos Menha der Prinz und Claudine Schoch die böse Carabosse.

Weitere mögliche Highlights? Ab dem 11. Februar 2023 hat der vierteilige Abend Promethean Fire in der Staatsoper Premiere. Und schon am 9. Oktober präsentiert die Compagnie in der Volksoper Jolanthe und der Nussknacker als Kooperation von Lotte de Beer mit dem Choreografen Andrey Kaydanowskiy. 24. 10.

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Gustav Mahler – großer Symphoniker und auch bedeutender Staatsoperndirektor.
Foto: Imago

Staatsoperndirektor Bogdan Roščić: "Mahler hat dem künstlerischen Ergebnis alles, auch seine Gesundheit, untergeordnet"

Die Staatsoper widmet ihrem ehemaligen Direktor Gustav Mahler eine ganze Saison. Eine ungewöhnliche Wahl. Roščić erklärt im Interview, warum Mahler für ihn eine wichtige Inspirationsquelle ist.

Vor 125 Jahren hatte Gustav Mahler sein Amt als Staatsoperndirektor angetreten, die damals, 1897, noch Hofoper hieß. Dieses Datum nimmt Staatsoperndirektor Bogdan Roščić zum Anlass, dem großen Vorgänger eine Saison zu widmen. Dabei geht es nicht um die Ausgrabung einer historischen Ästhetik. Roščić sieht in der Ära Mahlers einen zentralen Schub für die kompromisslose Erneuerung des weltberühmten Opernhauses und dessen künstlerische Exzellenz auch im szenischen Bereich.

Dass und warum gerade Mahler keine Oper hinterlassen hat, ist ein Faktum, welches angesichts seiner Tätigkeit noch rätselhafter wirkt. Dennoch wagt man an der Wiener Staatsoper eine reizvolle Spekulation; die erste Premiere der kommenden Saison ist dezidiert Mahler gewidmet: Dessen Jugendwerk, das Das klagende Lied, und die späteren Kindertotenlieder werden von Regisseur Calixto Bieito zum Musiktheaterabend Von der Liebe Tod gleichsam zu einem Werk geformt. Das sei der Versuch, so Roščić, zusammen mit dem Publikum zu träumen, der Symphoniker hätte tatsächlich auch ein Musiktheater vollendet.

STANDARD: Warum ist Ihnen Gustav Mahler eigentlich so wichtig – für Ihre Arbeit als Wiener Staatsoperndirektor?

Roščić: Weil er in seinen zehn Jahren an der Wiener Oper Spuren hinterlassen hat, die man gar nicht wichtig genug nehmen kann. Verstehen Sie mich nicht falsch: Da ist nichts, was man einfach übertragen oder woran man sich schnell bedienen kann. Hofmannsthal hat Mahlers Direktion das "Schauspiel" eines Kampfes Geist gegen Materie genannt. Und diesen Geist, diesen Anspruch, diese Kompromisslosigkeit – all das muss man kennen, nicht aus historischer Beflissenheit oder weil sich sein Dienstantritt jetzt eben zum 125. Mal jährt – sondern weil es dabei um die eigentlich wichtigsten Fragen unseres Metiers geht.

STANDARD: Die Kantate "Das klagende Lied" und die "Kindertotenlieder" werden zum Opernabend "Von der Liebe Tod" geformt. Er hat ja rätselhafterweise selbst keine Oper geschrieben ... Wie würden Sie vor Mahler begründen, dass das Sinn macht?

Roščić: Ich habe irgendwo geschrieben: Weil es so schön ist, zusammen mit dem Publikum den Traum zu träumen, Mahler hätte uns doch eine Oper hinterlassen. Er hatte ja viele Opernprojekte im Kopf, keines wurde fertig ausgeführt. Aber ein damals aktiver Künstler könnte unsere heutige Sichtweise auf die Oper oder auf ihn selbst gar nicht verstehen. Das unglaubliche Rätsel, dass der wichtigste Opernmensch der damaligen Welt und geniale Komponist obendrein keine Oper hinterlassen hat – wie soll man darüber mit diesem Menschen selbst, der nur 50 Jahre alt werden durfte, sprechen? Ich würde unsere Hommage daher mit Respekt und Liebe zum Werk begründen und ansonsten auf Milde hoffen. Mahler als Theaterpraktiker, der ja selbst Werke anderer Komponisten bearbeitet hat, würde schon verstehen, dass wir uns mit dem bestehenden Zustand nicht abfinden wollen und unser Bestes geben, etwas Neues zu schaffen. Und Regisseur Calixto Bieito, glühender Mahler-Verehrer, mit seiner intensiven, kompromisslosen, Gedankenräume öffnenden Theatersprache entspricht mit heutigen Mitteln Mahlers Wunsch nach Wahrheit im Theater.

Bogdan Roščić (1964 in Belgrad geboren) war Musik- und Senderchef von Ö3, war Chef von Universal Österreich, später künstlerischer Leiter der Deutschen Grammophon und Präsident von Sony Classical. Sein Vertrag als Staatsoperndirektor läuft bis 2030.
Foto: Peter Mayr

STANDARD: Für Richard Strauss’ "Salome" hat Gustav Mahler sehr gekämpft. Haben auch die anderen Premieren der kommenden Saison Bezüge zu Mahler?

Roščić: Manche natürlich ganz direkt. Mozarts Figaro war das von Mahler in seinen zehn Jahren an der Wiener Oper mit Abstand meistdirigierte Werk. Seine Verehrung für Wagner und ganz konkret für Meistersinger ist wohlbekannt. "Daneben möchte einem alles fast nichtig und überflüssig erscheinen", schrieb er über das Werk. Zu den anderen Premieren liegen die Bezüge komplizierter. Zum Beispiel in Mahlers Neugier auf Erweiterung des Repertoires, seine Ablehnung des völlig abgeschlossenen Kanons, wie Richard Strauss ihn zum Beispiel der Wiener Oper vorschreiben wollte. Aber mir geht es weniger um einen direkt nachvollziehbaren Mahler-Bezug als um die Geisteshaltung, die hinter diesen Werken steht. Um fundamentale Fragen – weit außerhalb jeder alltäglichen Komfortzone und Beliebigkeit wie bei Monteverdis Ulisse oder Poulencs Dialogues des Carmélites.

STANDARD: Welche Reformen hat eigentlich Mahler vorgenommen, die bis heute nachwirken und an die wir uns als Selbstverständlichkeit gewöhnt haben?

Roščić: Vieles, das heute an der Staatsoper selbstverständlich ist, geht tatsächlich auf Mahler zurück: dass wir Wagners Werke ungekürzt spielen oder dass man Zuspätkommende erst bei geeigneten Pausen einlässt. Aber das für Mahler zentral Wichtige, das ist bis heute, mehr als 100 Jahre später, nirgendwo selbstverständlich: nämlich die Wahrnehmung eines Opernabends als geschlossenes Ganzes. Es soll also nicht nur schön musiziert werden, sondern Regie, Raum, Darstellung sollen ineinanderfließen, Sängerinnen und Sänger müssen auch Darsteller sein – also das kompromisslose Bestehen auf künstlerischer Wahrhaftigkeit in allen Belangen. Das kann nie selbstverständlich sein, sondern ist ein Kampf, den alle Mitwirkenden täglich führen müssen, auch gegen sich selbst.

STANDARD: Wenn Sie Mahler als Dirigenten engagieren würden, welche Werke böten Sie ihm an, welche keinesfalls?

Roščić: Es ist ein interessantes Gedankenspiel. Denn wir wissen ja über Mahlers Dirigate nichts außer der ungeheuren Begeisterung der Zeitgenossen. Aber um ganz ehrlich zu sein, ich hätte nicht die Stirn, besser als Mahler wissen zu wollen, was er dirigieren soll und was nicht, noch dazu an seinem Haus.

STANDARD: Wenn man Mahlers Briefe liest, in denen er Zeitgenossen bittet, sich für seine Bestellung als Direktor einzusetzen, erwähnt er oft seinen Ruf als "Verrückter" ... Hätte es so jemand in der heutigen Klassikszene leicht?

Roščić: Mahlers Kampagne für seine Bestellung als Direktor der Wiener Hofoper war nichts für Zartbesaitete. Da ist ein Wille nach oben erkennbar, der sich nicht nur sympathisch vorträgt und mit dem Bild des durchgeistigten Künstlers oft schwer zu vereinbaren ist. Darum würde ich auch nicht jedes Wort dieser manchmal durchaus manipulativen Briefe zu ernst nehmen. Zweifellos war er aber, wenn man so reden will, verrückt nach dem bestmöglichen künstlerischen Ergebnis. Dem hat er alles, auch seine Gesundheit, untergeordnet. Über die heutige Klassikszene lässt sich dagegen zweifelsfrei sagen, dass sie unter einem dünnen Deckmäntelchen künstlerischer Liberalität in Wahrheit sehr oft Konformität bis zur Bravheit erwartet und einfordert. Auch das ist etwas, was der nach außen eigentlich ganz bürgerliche Mensch Gustav Mahler bekämpft hat, wo immer es ihm begegnet ist. (Ljubiša Tošić, 3.9.2022)