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Kultur

Bauerntheater und Belcanto

Freier Feuilletonmitarbeiter
In Stuttgart nehmen Jossi Wieler und Sergio Morabito Bellinis "Nachtwandlerin" bierernst

Hier könnte gleich "Das Bad auf der Tenne" oder "Kohlhiesels Töchter" beginnen. Denn rustikal und rau ist das Einheitsbühnenbild, dass sich Anna Viebrock für diese Stuttgarter "Sonnambula" ausgedacht hat. Die Wirtin Liesa, eine nicht mehr junge Tussi im Flokatipullover, von Catriona Smith lustvoll billig verkörpert, ist auf Männerfang.

Doch erst muss sie auf ihrer Diele mit dem mächtigen Gewölbe und den monströsen Wäscheschränken die letzten Bierbänke für eine bevorstehende Hochzeit aufbauen - die natürlich nicht ihre ist. Das tut sie sehr geräuschvoll, ohne Rücksicht auf die von Gabriele Ferro zart, aber mit biegsamer Bellini-Spannkraft genommene Ouvertüre. Und wir haben Zeit, diesen seltsamen Raum zu bestaunen, der nicht nur Flur ist, sondern auch Dorfstraße. Jedes Zimmer eine abgeschlossene Einheit, mit eigenem Stromzähler, vorn rechts stecken zudem die Zeitungen in einer Reihe von Briefkästen. Das atmet Enge und Mief, eine Gemeinschaft, die aufeinanderhockt, sich misstrauisch überwacht. Bald kommt er aus allen Ecken, der wie immer großartige, von Michael Alber angeleitete Stuttgarter Opernchor, in Fünfzigerjahrekostümen, wie sie so kittelschürzenfies nur die Viebrock zustande bringt: jeder eine Persönlichkeit, dabei ohne spielerische Übertreibung als Masse.

Was folgt, das ist Stuttgart, längst eine Marke schon, nun offenbar von der neuen Intendanz nach ein paar stumpfen Jahren wieder blank aufpoliert. Man kann hier nicht mit dem Glamour der ganz großen Operntanker konkurrieren, aber man setzt den unbedingten Glauben Wachheit, Genauigkeit und eine kaum überbietbare szenische Präsenz dagegen. Die in dieser fragil frühromantischen Oper um eine zu Unrecht der Untreue verdächtigte Dorfschöne, die unerkannt schlafwandelt, endlich wieder ergänzt wird durch musikalische Leuchtkraft und ein auf gleichem Niveau geschlossen gutes, darstellerisch wie vokal hervorragendes Ensemble. So wird raffiniert überhöhtes Bauerntheater mit Belcanto veredelt, wird aus dem bösen Schwank fast eine Tragödie.

Vor zehn Jahren haben der jetzige Intendant Jossi Wieler und sein nach wie vor als Chefdramaturg amtierender Regiekollaborateur Sergio Morabito an der Stuttgarter Staatsoper Vincenzo Bellinis "Norma" aus ihrem Status als steifes Primadonnenstück wachgeküsst und regietheaterveredelt. Nun folgt das ebenfalls 1831 komponierte Schwesterstück, die in sich stimmige "Nachtwandlerin" aus dem Appenzeller Hochland. Auch diesmal lässt das Regieteam seinen Protagonisten Zeit und Raum, weiß es sehr genau, dass sich gerade bei diesem Komponisten die Dramen des Hörens erst recht in den scheinbar endlosen und deshalb von Verdi so bewunderten "melodie lunghe, lunghe, lunghe" ereignen.

Besonders Luciano Botelho als umschwärmter, weil reicher Bräutigam Elvino genießt das, lässt seinen zupackenden Tenor aufsteigen, verkrampft freilich im zweiten Akt etwas in der Höhe. Ohne Tadel hingegen die strahlende Amina der Ana Durlovski, die alle Aufmerksamkeit in sich bündelt und auch jede Spitze mit süß gerundetem Ton meistert.

Es sieht so leicht aus, was Wieler und Morabito da gelungen ist - nicht zu vergessen der liebevolle Gabriele Ferro, der Bellinis essenzielle rhythmische Begleitfiguren unmerklich variiert, der schnell unterschätzten Partitur Farbe schenkt. Die Handlung spitzt sich immer mehr zu, Eifersucht und Misstrauen in dieser Zwangsgemeinschaft flackern auf. Sie scheint ein Matriarchat, die von Lisa und der wie eine zweite "Jenufa"-Küsterin auch unwirsch reagierenden Helen Schneiderman als Aminas Ziehmutter beherrscht wird. Unruhe bringt der fesche Unbekannte (Liang Li) herein, erst wird er nur beäugt, später, er ist nun als verlorener Sohn des einst hier herrschenden Grafen enttarnt, wird sein Gepäck gefleddert.

Da hat er sich schon feige im Schrank versteckt, weil es fast zum Drama gekommen wäre: Die schlafwandelnde Amina, wohl seine uneheliche Tochter, deren Mutter er einst sitzen ließ und die jetzt noch als sehr reales Gespenst über die Diele geistert, ist nachts in sein Zimmer gekommen. Er ist das Nehmen gewohnt, hat auch dieses Mädchen gleich begrabscht, so wie vorher schon die weit willigere Lisa. Doch die roten Flecken auf dem Laken, das unter der Schlafenden bald vom ganzen Dorf weggezogen wird, sie sind wohl doch nur Rotwein. Die Schande steht gleichwohl im Raum. Nach viel schöner Musik scheint alles geklärt. Das gute Ende naht.

Das Regieduo aber wartet mit einem rätselhaften Schluss auf. Dass die zweite Nachtwandlerinnenszene nicht auf dem Dachfirst der Mühle stattfinden würde, war klar, doch hier wankt Amina nur über den Gang, singt das Cantabile "Ah! Non credea mirarti" im blutverschmierten Nachthemd. Hat sie sich etwas angetan? Oder hat sie nur in einem Fleischbrocken herumgestochert, den dann ihre Mutter entsorgt? Zur glückstrunkenen Final Cabaletta sitzt sie auf einer Bank, scheint schon verheiratet, prostet sich mit Elvino zu; der Graf ist mit seiner Nemesis, dem Gespenst, gepaart. Die Erlösung steht weiter aus. Im jetzt wieder opernwachen Stuttgart war das nicht anders zu erwarten.

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