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Wir sind Wagner

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Fleischgewordenes Walhall: Das Kollektiv ist der Star beim "Rheingold" von Kriegenburg und Nagano in München

Das Opernhaus ist umstellt mit Mannschaftsbussen der Polizei. Die Münchner Sicherheitskonferenz läuft. Polizisten patrouillieren in dicken Parkas durch die Kälte. Draußen vor der Stadt werden ganze Autobahnbrücken wegen einer US-Außenministerin oder einem Weltbankchef abgesperrt. Die Reichen und Mächtigen müssen geschützt werden vor denen, die sie hassen. Je mächtiger sie sind, desto größer der Hass.

Ein gutes Ambiente für Richard Wagners "Ring des Nibelungen", der ja auch von nichts anderem erzählt als der Wut der Unterlegenen auf die Machthaber. In letzter Zeit ist es ein bisschen in Mode gekommen, Richard Wagners Riesen-Werk als eine Art Vorhersage der Finanzkrise zu interpretieren. Dabei geht es im "Ring" um Anfang und Ende einer ganzen Welt, nicht um so etwas Banales wie eine geplatzte Kreditlinie (wovon Wagner ja auch einiges verstand). Und doch ist es manchmal unheimlich, wie gut das Nibelungen-Personal in die Welt von heute zu passen scheint.

Jetzt nimmt die Bayerische Staatsoper das Nibelungen-Drama im Schnelldurchlauf in Angriff: Am Wochenende hatte das "Rheingold" Premiere, bis Juni kommen auch die anderen drei Teile heraus. Die Erwartungshaltung ist groß. München hat eine lange "Ring"-Tradition, sogar eine längere als Bayreuth. Die ersten beiden Teile wurden hier, gegen Wagners Willen und auf Drängen König Ludwigs II., uraufgeführt. Und zwar mit deutlich mehr Gegenständen auf der Bühne als nun im neuen "Rheingold".

Der Regisseur Andreas Kriegenburg hat sich entschieden, die Polizeiwagen auf dem Opernvorplatz zu ignorieren und die politischen Implikationen des Werks weitgehend auszublenden. Er denkt darüber nach, was ein Mythos überhaupt ist. Eine kollektive Erinnerung, die die Kinder von den Großeltern abends am Herdfeuer weitererzählt bekommen, Jahrhundert für Jahrhundert. Das schafft Identität - und stiftet Gemeinschaft. Das zeigt sich schon am berühmten ersten Satz des Nibelungenlieds: "Uns ist in alten maeren wunders vil geseit", (etwa: "Es gibt alte Geschichten, die uns viele wunderbare Dinge berichten"). Das "wir" dieses ersten Satzes bezeichnet die Zuhörer: uns alle.

Kriegenburg übertragt diese Idee auf Wagners Nibelungen-Mythos, was eine so einfache wie geniale Idee ist. Auf der leeren Bühne, die in verschiedene bewegliche Abschnitte unterteilt ist (Bühnenbild: Harald B. Thor), verkörpern mehr als hundert Statisten in fleischfarbener Unterwäsche in großen Choreographien die Schauplätze des Dramas. Man soll sich wahrscheinlich vorstellen, dass sie alle nackt sind; menschliche Prototypen, eine Ur-Gesellschaft. Sie malen sich blau an, verschlingen sich ineinander, wogen auf und ab und werden so zu menschlichen Wellen des Rheins, in denen der tollpatschige Alberich untergeht. Oder sie formen die Zinnen der Götterburg Walhall. Sie übernehmen die Schar der Nibelungen, tragen einen brennenden Riesenwurm durch die Manege oder dienen den Riesen Fasolt und Fafner als Throne (Choreographie: Zenta Haerter). Wir sind Wagner.

Dieser Kniff hat zwei Vorteile. Erstens: Die langen Wagner-Dialoge werden aufgelockert. Ständig wackelt irgendwo ein Arm, biegt sich ein geschmeidiger Körper, laufen Zwerge durcheinander. Bewegung tut gut bei fünfzehn Stunden Oper. Und zweitens: Wagner hat viele Noten und viele theoretische Traktate darauf verwendet, den Mythos als Ziel eines Komponisten hinzustellen. Der Gedanke, dass eine symbolische Gesellschaft sich selbst ein Mythos-Theater aufführt, hätte ihm wohl gefallen (falls Wagner fähig war, Gefallen an den Gedanken anderer Menschen zu haben).

Doch Kriegenburgs Ansatz birgt auch eine Gefahr: Das "Rheingold" ist nur das Vorspiel. Es folgen noch drei weitere Opern. Da wird die Vorstellung, dass wir alle Anteil an der Weitergabe von Sagen haben, nicht als Aussage reichen.

Für den Anfang ist die Münchner Produktion jedenfalls vielversprechend. Das liegt auch an der sehr guten Sängerbesetzung. Einen besseren Alberich als Johannes Martin Kränzle kann man sich schwer vorstellen. Er singt den Nachtalb mit der Artikulation und der Leichtigkeit eines Liedsängers, dem Ausdrucksvermögen eines Theaterschauspielers und dem Volumen eines Heldenbaritons. Der Slowake Stefan Margita verkörpert einen strahlenden Loge, allerdings mit schlechter deutscher Aussprache, was bei diesem mephistofelischen Chef-Erzähler des "Rheingolds" schade ist.

Für Dirigent Kent Nagano, der München nächstes Jahr im Streit mit Intendant Klaus Bachler verlässt, ist es der erste szenische "Ring". Er beginnt ihn verhalten, mit gedämpfter Lautstärke und langsamen Tempi. Nagano legt Wert auf Sicherheit, darunter leidet ein wenig der Spielfluss, auch das Überraschungsmoment, aber das Zusammenspiel mit den Sängern glückt tadellos. Und bei steigender Spieldauer lässt Nagano sein Staatsorchester dann doch noch immer häufiger dröhnen und strahlen.

Beim Schlussapplaus fing das Publikum an zu jubeln, und als der Regisseur vor den Vorhang trat, wuchs der Jubel noch an. Wenn Kriegenburg seine Idee vom Kollektiv-Mythos in den nächsten Teilen noch weiterentwickeln kann, wird die Messlatte 2013 für Frank Castorfs "Ring" in Bayreuth noch höher liegen.

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