München
Die Schönheit der Leiber

Grandiose Szenerie, fulminante Brünnhilde: "Siegfried" im Münchner Nationaltheater begeistert das Publikum

28.05.2012 | Stand 03.12.2020, 1:27 Uhr

Ein Wald aus Körpern: Andreas Kriegenburgs Wagner-Inszenierung „Siegfried“ erfüllt sich vor allem im Ästhetischen.

München (DK) Richard Wagners „Siegfried“ ist wahrscheinlich die einzige Oper der Musikgeschichte mit einer Gebrauchsanweisung für das Reparieren eines zerbrochenen Schwertes. Genau wird beschrieben, wie der infantil-heldenhafte Siegfried das Wunderschwert Nothung erst feilt, dann die Stücke unter Triumphgeheul neu schmiedet.

So unglaublich das klingen mag: Aber die kuriose Anleitung ist für jeden fantasiebegabten Regisseur im ansonsten eher bewegungsarm angelegten Bühnenfestspiel „Der Ring des Nibelungen“ eine dramaturgische Rettung ins Action-Fach. So auch für Andreas Kriegenburg im Münchner Nationaltheater. Bei ihm wird das Schwert von einem Aktenvernichter zu langen Streifen geschlitzt. Aus dem Kohleofen zündeln die langen Flammen an Angelruten aufgehängt, und ein Zwergenheer pumpt einen überdimensionalen Blasebalg, während bei den Schlägen auf dem Amboss Unmassen Glitter auf die Bühne segelt und ein auf Abwege geratenes Belüftungsrohr über die Bühne baumelt. Das ist effektvoll, lebendig gestaltet und sieht wirklich gut aus.

Genau wie eigentlich die gesamte Inszenierung von Andreas Kriegenburg, seinem Bühnenbildner Harald B. Thor und der Kostümbildnerin Andrea Schraad. Und mehr möchte man über diese Arbeit am liebsten gar nicht sagen. Denn sie erfüllt sich im Ästhetischen. Ein übergeordnetes inhaltliches Konzept, eine Interpretation aus heutiger Sicht des verschlungenen Pseudo-Mythos, vielleicht eine politische Deutung ist nicht zu finden.

Es fehlt vor allem aber an Biss. So kreativ sie sein mag, aber die Schmiedeszene etwa hat man in München schon einmal anarchischer, komischer, schwarzhumoriger gesehen, als nämlich David Alden den „Ring“ inszenierte. Sein Siegfried, ein pubertierender Rüpel auf riesigem Kinderdreirad und mit Gettoblaster unter dem Arm, zog eine unvergessliche Show ab: Er zerkleinerte Noth-ung mit Gewehrkugeln, schmolz die Stücke im Motorraum eines schrottreifen Straßenkreuzers, goss das Metall im alten Auspuffrohr und kühlte es im heimischen Klo ab, in das er kurz zuvor uriniert hatte. Bei Kriegenburgs hochästhetischen Bildern ist dagegen jede Szene, jeder Konflikt mit Mime so zahm gestaltet, dass man fast vergisst, wie viel Humor in dieser Oper steckt.

Zumindest hat Kriegenburg einen ästhetischen Ansatz. Der lässt sich etwa so formulieren: Anstelle eines Bühnenbildes hat er Statisten. Mit ihren Bewegungen, ihren Armen und Beinen können sie fast alles darstellen, und immer sieht das wunderbar aus.

Und sie offenbaren zudem das Gemacht-Sein von Theater. Am Anfang des Stücks bilden wogende Arme und Beine den tiefen unheimlichen Wald, später erhebt sich die Urmutter Erda aus einem sich windenden halbnackten Leibermeer heraus. Der Feuerring, der Brünnhilde gefangen hält, ist nichts anderes als eine Menschenmasse unter glitzernd-gleißendem Zellophan. Und wohl noch nie hat man einen so attraktiven Wurm gesehen, ein Gesicht aus Menschenkörpern – als hätte der Renaissance-Künstler Giuseppe Arcimboldo Hand angelegt. Optisches Überwältungstheater also.

Man könnte abtauchen in der Schönheit der Bilder, wenn die Musik ebenso berauschend wäre wie die Szenerie. Aber hier herrschte allzu oft Mittelmaß. Lance Ryan als Siegfried und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Mime singen viel zu ähnlich, um sich voneinander abzuheben. Besonders Ryans Tenor klingt zu wenig baritonal dunkel für die Rolle. Gute und kräftige Stimmen besitzen Wolfgang Koch als Alberich und Thomas J. Mayer als Wotan. Im dritten Akt kommt es dann doch noch zu einem Glücksfall: Die Amerikanerin Catherine Naglestad ist eine einfach fantastische Brünnhilde, optisch wie vokal.

Die strahlende, große Blondine beherrscht ihre Stimmbänder souverän, singt ein zauberhaftes lyrisches Pianissimo mit der gleichen Sicherheit ihrer hellen Stimme wie ein Forte mit der Power eines Presslufthammers. Ein Naturereignis! Genauso wie die gleichermaßen differenzierte wie hochdramatische Dirigierkunst von Kent Nagano. Ein „Siegfried“ voller Schönheit und Ästhetik für Genießer. Das Publikum ließ sich begeistern und bereitete dem gesamten Ensemble ein Klangbad aus Beifall und Bravos.