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Kultur

Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste des Weins

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Sex-Rollenspiele und Night Fever: Calixto Bieito verlegt in Stuttgart Rameaus Ballettoper "Platée" ins New Yorker Studio 54

Die Barockzeit und die Seventies haben viel gemeinsam: kreischbunte Selbstdarsteller, hohe Absätze für Männer, noch höhere Fistelstimmen, Haarmatten und Monsterkoteletten, modische Geschmacksverirrungen, pompöse Auftritte, hedonistische Alltagsfluchten, schräge Tänze, promisken Sex. Kein Wunder, dass der Regisseur Calixto Bieito, Opernspezialist für all diese Spielarten, in seine Stuttgarter Inszenierung von Jean-Philippe Rameaus einzigartig über die Gattungsstränge schlagendem Ballet bouffon "Platée" Plateausohle mit Olymp kurzschließt.

Das für gewöhnlich in einem nebelumwaberten Sumpfloch am böotischen Berg Kithäron angesiedelte Wer von 1745 k, das man das erste Musical nennen darf, hat Bieito in die koksgeschwängerte Discodunkelheit des berühmt-berüchtigten, heute ausgerechnet als Musicaltheater dienenden New Yorker Studios 54 verlegt. Hier sind Leopardenfrau und Mann am Hundehalsband ganz bei sich, hier dürfen sie ihren Fetisch ausleben.

Das in der Musikgeschichte ziemlich allein dastehende "närrische Ballett" aus dem Absolutismus um eine hässliche, froschähnliche Nymphe, die Jupiter zur Erheiterung des übrigen Götterhimmels scheinheiraten möchte, um die ewig eifersuchtsrasende Juno von seinen wahren Amouren abzulenken, wird stilistisch klug mit der ebenfalls ziemlich seinsvergessenden Disco-Ära in Verbindung gebracht: Der böse Spaß der Unsterblichen gefriert so zum Partyrollenspiel substanzumwehter, aber höchst irdischer Nachtschwärmer.

Der Klamauk beginnt schon vor dem ersten Orchesterton, wenn der keinen szenischen und akustischen Gag scheuende Dirigent Christian Curnyn auf der offenen, schwarz leuchtenden Spiegelbühne von Susanne Gschwender erst einmal von seiner silbernen Wurstcouch emporkrabbelt, die er mit dem Dichter Thespis geteilt hat, um seinen Assistenten vom Pult zu vertreiben. Der hat nämlich schon ohne ihn angefangen.

Danach aber leistet Curnyn formvollendete Rameau-Arbeit und bringt die tanzverliebte Partitur mit dem ihm flink folgenden Staatsorchester zum Moussieren und Groven. Besonders wenn die Rockgitarre dazwischenkreischt - im eigentlich überflüssigen, aber hochvirtuosen Auftritt von La Folie, der Frau gewordenen Torheit, die Anna Durlovski mit irrwitzigen Koloraturen als wahninnige Rampensaunummer zwischen Edita Gruberova und Janis Joplin hinlegt.

Und auch der wunderbar überdrehte, dabei seinen feinen Haute-Contre-Tenor durch alle Parlando- und Legatomöglichkeiten jagende Cyril Auvity mutiert als Merkur zum Spielmacher. Das war er vorher auch schon als Thespis, im schrillen Prolog über die Geburt der Tragödie aus dem Geist des Weines, dem alle in Gestalt einer fast nackten Bacchantin von Rubensausmaß gierig grapschend huldigen.

Merkur knutscht oft mit König Cithéron (André Morsch) herum, wie es hier überhaupt jeder mit jedem hat. Nur eine bleibt Außenseiterin, die schleimige Platea, schon im Original von einem Tenor gesungen, die Bieito konsequenterweise als echten Transvestiten vorführt, dem sich die zügellose, spätrömisch dekadente Saturday-Night-Fever-Gesellschaft letztlich doch nicht gewachsen zeigt: Da schimmert dann schnell Spießertum durchs Glitzerhemd und Silbertop durch. Zu viel Grenzüberschreitung soll eben nicht sein. Jupiter hatte zwar Ganymed, aber eine Transe? - igitt!

Thomas Walker singt dieses so spöttisch wie skeptisch beäugte Geschöpf mit etwas trockenem Tenor. Doch trägt er Perücke, ausgestopfte Hüfte und Gummibusen, die er in ein Diane-von-Fürstenberg-Wickelkleid packt, mit aggressiver Gender-Würde als Waffen des Crossdressing. Schon am Anfang sausten seine grünen Smaragd-Slippers wie von Geisterhand über die leere Bühne, bevor die zweifelhaften Schönen der Partynacht zu sehen sind. Anders als die Red Ruby Slippers von Schwulenikone Judy Garland als Dorothy erlauben diese Pumps Platea keinen glücklichen Gang ins zauberhafte Land Oz jenseits des Regenbogens.

Calixto Bieito, der oft so zärtlich wie grob sein kann, zeigt in dieser kurzweiligen, selten nur auf der Stelle tretenden, dabei fein schattierten Charakterkomödie vor allem seine elegante Seite - selbst wenn eifrig an Jupiters monströsem Eselsplastikpimmel gezogen wird, bis sich die Allongeperücke seines Trägers noch steiler aufstellt. Den so geilen wie grellen Gott, der auch als Uhu mit nur einem Armflügel schlägt, singt Andreas Wolf als barocken Hape Kerkeling.

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Diese rundum geglückte, stürmisch gefeierte "Platée"-Produktion, mit der die neue Stuttgarter Opernleitung nach einer gelungenen ersten Saison gelassen ins Sommerfinale einbiegt, ist auch ein Fest für Kostümbildnerin Anna Eiermann. Sie steckt die Widergänger von Liza und Bianca, Andy und Mick in weiße Anzüge und Retroroben. So treten die Figuren in dem von einem ganzen Glühbirnen- wie Lüsternhimmel beleuchteten Tanzschuppen im legeren Bourréerhythmus zum Discofox an. Allein schon diese liebevolle Wiederbelebung vergangener Modeirrwege lohnt den schwäbischen Opernbesuch.

Termine: 4., 6., 9., 13. Juli

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