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Von wegen Glamour. Ausgerechnet in Salzburg ist eine ungewöhnlich nüchterne „Bohème“-Inszenierung zu sehen – mit Piotr Beczala und Anna Netrebko.

©  Festspiele/Silvia Lelli

Salzburger Festspiele: Kalte Herzen

Kitsch war gestern: Salzburg zeigt, zum ersten Mal überhaupt, Puccinis „La Bohème". Und Anna Netrebko ist eine grandiose Mimi.

Es wurde aber auch Zeit für ein wenig Glamour! Besinnlich hatte der neue Intendant Alexander Pereira die Salzburger Festspiele heuer beginnen lassen, mit einer „Ouverture spirituelle“, zehn Kirchenmusikkonzerten, die der offiziellen Eröffnungszeremonie vorgeschaltet waren. Zum ziemlichen Flop wurde die erste Premiere, Mozarts „Zauberflöte“, szenisch läppisch, sängerisch nur solide (Tsp. vom 29. 7.). Auch der Versuch von Schauspielchef Sven-Eric Bechtolf, aus der Urfassung von Richard Strauss’ „Ariadne auf Naxos“ ein Schauspiel-TanzOpern-Gesamtkunstwerk zu machen, wird in Salzburg eher unter der Rubrik „ehrenwertes Experiment“ verbucht.

Am Mittwoch war es dann soweit: Die berühmteste aller derzeitigen Opernsängerinnen, Anna Netrebko, sollte spektakulär ihr Leben im Großen Festspielhaus aushauchen, als Mimi in Giacomo Puccinis „La Bohème“. In Salzburg, wo traditionell Mozart und dem Festspielmitbegründer Richard Strauss gehuldigt wird, war der italienische Komponist bislang ein Außenseiter. In 91 Sommern standen gerade mal zwei seiner Werke auf dem Spielplan, „Tosca“ und „Turandot“. Wenn Pereira diesen Bann nun bricht, stecken natürlich auch wirtschaftliche Überlegungen dahinter – schließlich verkauft sich international kein Komponist so gut wie Puccini. Exzellenz, Exklusivität und Expansion sind die drei Schlagworte, die der Impresario im Munde führt: Hier in Salzburg muss alles noch einen Tick besser sein, als es die betuchte Klientel aus den Kulturmetropolen gewohnt ist, hier soll es künftig nur noch Premieren und keine Wiederaufnahmen mehr geben – und er spielt deutlich mehr als seine Vorgänger. Durch die zusätzlichen Tickets soll mehr Geld hereinkommen, ebenso wie durch das verstärkte „Lukrieren“ von Sponsorengeldern, wie die Österreicher das Fundraising nennen. Mit einer Gala zum Festivalabschluss will Pereira zudem ab 2013 jährlich eine Opern-Uraufführung finanzieren.

Zwar hat ihm das Kuratorium die gewünschte Etataufstockung von 60 auf 64 Millionen Euro verweigert, sein Herzensprojekt kann er trotzdem realisieren. 1000 Kinder aus Venezuela sind eingeladen, um in Konzerten die Leistungsfähigkeit ihres nationalen Bildungssystems vorzuführen. Die Gastspiele sind vollständig mit Spenden aus der Privatwirtschaft bezahlt.

Geld regiert die Welt auch in Puccinis „La Bohème“. Zwar lässt Bühnenbildner Paolo Fantin im zweiten Bild einen gigantischen Paris-Stadtplan samt illuminierbarer Spielzeughäuschen aufklappen, doch so hart, wie Damiano Michieletto das Leben und Streben der Figuren inszeniert, fühlt man sich eher an eine postkommunistische Großstadt erinnert. Und so wird es dann doch nichts mit dem Glamour an diesem Abend. Kein sentimentales Schwelgen im Dekor der Belle Epoque, keine hollywoodreifen Taschentuchszenerien: Ausgerechnet beim teuersten Festival der Welt, wo die Herren tatsächlich noch Smoking tragen und die Damen lange Abendroben zur Botox-Stirn, ausgerechnet zum Intendanzstart des vermeintlichen Populisten Pereira tritt die Modernität des „Bohème“-Librettos so schmerzhaft deutlich zutage wie selten.

Orientierungslose Spätpubertierende sind diese jungen Männer im ersten Akt, Möchtegernkünstler, denen jede Ablenkung willkommen ist, um nicht der eigenen Ideenlosigkeit ins Auge blicken zu müssen. Das wiederum macht sie latent aggressiv, auch untereinander. Kaltes Licht scheint über dieser „Bohème“, in der Wohngemeinschaft, in der die vier wie Penner hausen. Im zweiten Bild verströmt kein Café Momus den Flair des französischen savoir vivre, hier herrscht allein der kapitalistische Konsumterror mit globalisiertem Weihnachtskitsch und gedungenen Knechten in Polyester-Ganzkörperkostümen, die Santa Claus, Disney-Zwerge und Rotnasenelche darstellen sollen. Und die Barrière d’Enfer ist hier keine Zollschranke an der Stadtgrenze sondern im Wortsinn ein Tor zur Hölle, eine zubetonierte Autobahn-Öde im dreckigen Schneematsch, ein Ort vollendeter Tristesse, erhellt allein durch die Neonröhren einer Bierbude.

Michielettos Interpretationsansatz wirkt deshalb so radikal, so desillusionierend, so gefühlsschluckend, weil er ohne das Repertoire des deutschen Regietheaters auskommt, ohne Brutalitätsexzesse, Ekelrequisiten oder Symbolballast. Ganz konventionell bewegen sich seine Figuren, filmrealistisch, banal: Massimo Cavalletti als Marcello, Alessio Arduini als Schaunard und Carlo Colombara als Colline, Nino Machaidze als aufreizend körperliche, aber absolut unerotische Musetta. Am rückhaltlosesten in ihrer Rollenidentifikation zeigt sich Anna Netrebko. Da klopft kein zartes Mädchen bei Rodolfo an – die eiskalten Händchen stammen von einem erloschenen Herzen. Diese Minijobberin in H&M-Klamotten hat sich gepanzert gegen die gnadenlose Welt da draußen, traut keinem mehr, hält auch zu Rodolfo deutlich Distanz, bis zur Sterbeszene.

Anna Netrebko ist der stärkste Charakter in diesem düsteren Kammerspiel, darstellerisch wie vokal. Mühelos flutet sie das riesige Festspielhaus mit rubinrotem Timbre, weit und weich schwingen ihre Kantilenen, ganz ohne Druck, präsent auch im Flüsterton. Wie schwach wirkt neben ihr Piotr Beczalas Rodolfo! So wie sie singen, ist klar: Die zwei gehören nicht zusammen. Hier sein angenehmer, schlanker, lyrischer Tenor, den er oft bis an die Grenze ausreizen muss, dort ihr glutvoller, genuin dramatischer, sich verströmender Sopran. Rolando Villazón, das war ein Seelenverwandter der Netrebko, damals, 2005 in der legendären „Traviata“. In diesem Jahr trat der von Stimmkrisen gezeichnete Mexikaner in Salzburg nur noch in einer Nebenreihe auf, einer konzertanten Aufführung von Mozarts Frühwerk „Il re pastore“. Das kleinste der Festspielhäuser war dabei noch nicht einmal ausverkauft. Die Marktmechanismen der Klassikwelt sind brutal.

Einen berührenden Moment gibt es am Ende dann doch in der Salzburger „Bohème“: Wenn sich Colline entschließt, seinen Mantel beim Pfandleiher zu versetzen, um Mimi, die natürlich keine Krankenversicherung hat, einen Arztbesuch zu ermöglichen. Wie ein Baby wiegt er das Kleidungsstück ein letztes Mal in den Armen. Nicht zu seinen Mitmenschen, nur zu diesem Stück Stoff kann dieser Egomane eine emotionale Bindung aufbauen. Dann kippt Netrebko zur Seite, einfach so, mit dem Gesicht auf den Boden, während im Hintergrund das Video mit der regennassen Fensterscheibe sichtbar wird, auf die eine rätselhafte Hand im ersten Akt Mimis Namen geschrieben hatte. Mit einem Ruck wischt sie die Buchstaben nun aus.

Merkwürdig quer zum Regiekonzept steht das Dirigat von Daniele Gatti. Der Maestro aus Mailand interessiert sich nicht für das Moderne an der Partitur. Er zelebriert mit den formidablen Wiener Philharmonikern lieber die Qualitäten des großen Instrumentators Puccini. Duftig und durchhörbar, das ist Gattis Klangideal. Jugendstilhaft pastellig, ja geradezu gläsern wirkt da vieles. Genüsslich leuchtet er noch das kleinste Detail einer raffiniert eingewobenen Nebenstimme aus, zwirbelt die melodischen Fäden haarfein, führt vor, wie weit er das Tempo drosseln kann, ohne dass der Fluss der Musik versandet. Das ist kunstvoll, dringt aber kaum bis zum Hörerherz durch. Im Theater gewesen. Nicht geweint.

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