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Kultur

Wie viel Grau kann Mimì tragen?

Freier Feuilletonmitarbeiter
Besser als Anna Netrebko in Salzburg kann man "La Bohème" kaum singen. Trotzdem bleibt das Publikum skeptisch - weil die Regie etwas gegen zu viel Festspielstimmung hat

Eine eiskalte Hand schreibt noch einmal, wie am Anfang, die vier Buchstaben, um die sich hier alles dreht, auf die riesengroßen, beschlagenen, vom Regentropfenballett benetzten Fensterscheiben: "M I M Ì". Dann wischt sie sie weg. Aus, vorbei, tot. Anna Netrebko liegt längst leblos auf der Matratze im Großen Festspielhaus. Glück und Oper zu Ende. Aber auch im Publikum bleiben die Hände eiskalt. Der Beifall ist enden wollend, schwingt sich nur mühsam auf zu sachtem Dauergeprassel. Seltsam.

Dabei war das ein so feines "Bohème"-Schlussbild. Anrührend. Effektvoll. Bekannt und doch neu, in diesem Zusammenhang. Keiner wollte hier Puccini-Schlendrian, Schmachtseligkeit, Schneekitsch. Und auch die mediale Starshow vor dem Haus blieb konsequent draußen. Hier galt's der Kunst.

Anna Netrebko sah in ihrer ersten Salzburger szenischen Produktion seit sechs Jahren so verhuscht und mausgrau aus wie noch nie. Stand als Mimì dünnbeinig verloren herum wie im Nebel, schien nicht immer alles mitzubekommen. Aber sie sang konzentriert, zart, wunderbar. Die gar nicht von irgendeiner Tuberkulose wunde Kehle weitend. Mit flutenden Dunkelsilbertönen, die warm und blühend waren, während die verhärmte Kunsthandwerkerin, die sie spielte, ihrem Nachbarn Rodolfo beim ausgegangenen Joint näherkam.

Keine Kerze, keine Häkelstola, kaum Paris. Bohème ohne Zauber, dafür mit mehr von der Stimmung, wie sie der finnische Regisseur Aki Kaurismäki in seinem Film "Das Leben der Bohème" inszeniert hat. Nackt, nüchtern, nicht realistisch. Sonst reibt Anna Netrebko weltweit in Uraltinszenierungen des unsterblich herzwärmenden Quartier-Heulers ihr eiskaltes Händchen und war auch dabei, als Puccini auf der Kinoleinwand in künstlicher Studioatmosphäre zur Mottenkugel gerollt worden war. Aber diese neue Prestigeproduktion, die von Salzburg und Shanghai koproduziert wurde, will den gern geschmähten Komponisten nicht zu übertrieben und festlich glänzen lassen. Man wollte das Populäre nicht zu kulinarisch aufpolieren. Stattdessen sollte das Moderne, die filmartige Schnitttechnik, die raffinierte Polyfonie des schillernden Stimmgewebes dieser Oper vorgeführt werden, die von ihrem immerwährenden Erfolg nahezu erdrückt zu werden scheint. Doch das Publikum im Saal und die 5000 beim Public Viewing auf dem Salzburger Kapitelplatz, die Menschen vor den vier Fernsehsendern und in den 110 Kinos sollten auch schwelgen dürfen. Irgendwie hat es nicht funktioniert, obwohl fast alles richtig gemacht wurde.

Piotr Beczala war offensichtlich beim Typberater für Tenöre. Sein nur selten sich gehen lassender Dichter Rodolfo, der Computerausdrucke verbrennt und bisweilen auch Videotagebuch führt, sah mit langem Zottelhaar, Nerdbrille und eng sitzender Jeans gar nicht mehr bieder aus. Er und Netrebko harmonieren wunderbar im Timbre, beide sangen diszipliniert in sich gekehrt, keiner führte die Rampensau aus. Es fehlt freilich die sich aufstachelnde Entäußerung, die einst die Paarung Netrebko/Villazón kennzeichnete; auch gerät Beczalas metallische Höhe immer wieder an Grenzen. Selbst das passte gut in dieses Konzept, wo Liebe bewusst auf Entfernung ausgelebt wird, wo mit schönen Tönen strikt gesungen, nicht geschluchzt wird, wo man auch im Tod nicht vereint ist, sondern isoliert im Raum stehen bleibt.

Der junge italienische Regisseur Damiano Michieletto, der hier nächstes Jahr auch unter Zubin Mehta "Falstaff" herausbringen wird, hat in seiner aufgeräumt durchdachten Inszenierung wieder mal seinen Bühnenbildner Paolo Fantin dominieren lassen. Da bleibt dem Künstler-Prekariat von heute gerade noch ein Matratzenlager auf der Breitband-Bühne, dahinter baut sich mächtig das monströse Fenster auf, dessen Flügel und Sprossen - surreal komisch - als Treppenhaus und Brücken dienen.

Dann öffnet sich der Durchblick, die Bühne ist jetzt nicht mehr breit, sondern tief. Zunächst entfaltet sich als Bohème-Café-Momus-Straßenszenerie eine Google-Map mit 3-D-Häuschen wie eine Weihnachtsinszenierung im Kaufhaus. Eine von Carla Teti wie in einer bunten Revue ausstaffierte Kundenschar lässt sich eifrig von bemützten Elchen und Wichteln mit Playstations und Kaffeemaschinen beschenken und fährt die fette Beute im Einkaufswagen weg: beschwingte Konsumkritik im Puccini-Takt. Wobei die Haupthandlung vorn ein wenig flöten geht. Mimì führt zwar stolz ihr neues rosa Paillettenhütchen vor. Die kalt und scharf gleißend nuttige Musetta, gesungen von Nino Machaizdes, rückt aber kaum in den Mittelpunkt.

Im dritten Akt dann das heulende Imbissbudenelend an der Ausfallstraße, schmutzigschneegrau, von hohlen Quinten wie von Eiskristallen umweht. Wie sich hier, in der kaltschnäuzigen Vorstadttristesse, die Charaktere wieder begegnen, aber sich emotional verpassen, einander entgleiten, wie verlorene Menschlein im Bühnenhalbdunkel herumstehen, das ist in seiner konsequenten verdrucksten Beiläufigkeit ohne jede pauschale Operngestik traurig und zart zugleich.

Es ist noch mehr der Moment der Netrebko, die eigentlich nichts macht, nur ist, Klang wird. Sie brennt dieser verlorene Seele Mimì vor einer riesenhaft vergrößerten Nummer der Pariser Notrufzentrale eine vokale DNA ein, wie man sie vielleicht seit den großen Tagen Mirella Frenis nicht mehr so einfach und richtig zugleich, so edel und doch zurückgenommen gesungen erlebt hat. Das lässt sich dann auch im Finale nicht mehr intensivieren. In der zur Zwangsräumung bereiten Absteige, wo alle zynisch die Früchte ihrer brotlosen Kunst zerstören, kippt Mimì einfach auf den dreckigen Boden, verlässt uns ohne Herzschmerz-Allüre.

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Sympathisch, aber als Charakter unterbelichtet bleibt der Maler Marcello von Massimo Cavalletti, während der wendige Alessio Arduini mit prägnantem Bariton als Musiker Schaunard herausragt. Carlo Colombara singt als Colline die Abschiedsarie auf seinen alten Mantel mit angenehmer Geradlinigkeit. Um die müht sich auch Daniele Gatti im Graben der Wiener Philharmoniker. Nur, die bleiben ungewöhnlich stumpft, oft laut, bewusst strukturklar, aber insgesamt ohne Poesie.

Vielleicht ist dies das Problem dieser ambitionierten, teuren, aber auf Anti-Luxus Wert legenden Festspiel-"Bohème". Ein wenig sentimentalen Plüsch trägt ein jeder in einer verborgenen Herzenskammer. Und da darf bei diesem prosaischen Puccini in der optischen Ausnüchterungszelle einfach nichts anschlagen. Was sich am Ende eben doch rächt.

Termine: 4., 7., 10., 13., 15., 18. August

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