Wandel der Zeiten, Wandel der Werte

Den grossformatigen «Soldaten» von Bernd Alois Zimmermann galt die letzte Opernpremiere der Salzburger Festspiele. Der erste Sommer mit Alexander Pereira geht zu Ende. Die Bilanz ist durchzogen.

Peter Hagmann
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Halblustiges Soldatenleben hinter Glas, davor ein schreckliches Frauenschicksal mit Laura Aikin: Bernd Alois Zimmermanns «Soldaten» in der Salzburger Felsenreitschule. (Bild: Ruth Walz)

Halblustiges Soldatenleben hinter Glas, davor ein schreckliches Frauenschicksal mit Laura Aikin: Bernd Alois Zimmermanns «Soldaten» in der Salzburger Felsenreitschule. (Bild: Ruth Walz)

Sie gelten als Ikone des neuen Musiktheaters, «Die Soldaten» von Bernd Alois Zimmermann – schon allein von ihrer Faktur her. Enorm das Vokalensemble, immens das Orchester mit seinem ausgebauten Schlagwerk und seinen diversen Nebeninstrumenten, so riesig, dass es in keinem Graben der Welt Platz fände – aber Graben braucht es hier auch keinen, die Musik ist räumlich gedacht. Und von hochgetriebener Schwierigkeit die einzelnen Partien wie die Instrumentalstimmen; das Werk ist ja, obwohl seine einzelnen Teile mit altertümelnden Bezeichnungen versehen sind, streng zwölftönig gehalten, auf einer zentralen Reihe aufgebaut und aus deren Permutationen heraus entwickelt. Und dann erst die Aussage des Stücks, es folgt dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz: diese schreiende Anklage gegen die Ungleichbehandlung von Menschen, gegen das Denken in Kategorien von oben und unten, vor allem aber gegen den Krieg.

Klassiker der Moderne

Kein Wunder, galten «Die Soldaten» zunächst als unaufführbar. Für die von dem jungen Michael Gielen geleitete Uraufführung 1965 in Köln – ein Mitschnitt dieser sensationellen Produktion ist auf CD greifbar – war ein ganz exzeptioneller Probenaufwand vonnöten. Bis heute sind «Die Soldaten» ein Felsbrocken geblieben, an den sich nur die mutigsten Theaterleiter wagen (zum Beispiel Georges Delnon in Basel). In den 21 Jahren seiner Zeit am Opernhaus Zürich hat Alexander Pereira das Stück nicht herausgebracht, bei den Salzburger Festspielen hat er «Die Soldaten» nun aber gleich auf seinen ersten Spielplan gesetzt. Hier allerdings als Lückenbüsser: an die Stelle der für jeden Sommer angekündigten Uraufführung, die 2012 wegen der zu kurzen Frist zwischen der Wahl Pereiras im Mai 2009 und dem Premierentermin nicht zu realisieren gewesen sei. Zudem kam die Produktion – das mag probentechnische Gründe haben – ganz am Ende der Festspiele heraus, ausserhalb jener guten Woche am Beginn, während deren die kulturelle Welt nach Salzburg blickt.

Mit der Felsenreitschule stand ein idealer Aufführungsort zur Verfügung. Allein, Alvis Hermanis, der sich hier, auf Wunsch des Dirigenten Ingo Metzmacher, erstmals der Oper zuwandte, wusste als Regisseur und Bühnenbildner den Raum nicht wirklich zu nutzen, er tat es jedenfalls mit deutlich weniger Gewinn, als es Katie Mitchell 2009 bei «Al gran sole carico d'amore» von Luigi Nono gezeigt hatte. Starke Metaphern dienen ihm dazu, die Geschichte zu erzählen. Alles Sexuelle zum Beispiel ist mit Stroh verbunden; wenn Marie Wesener auf ihrem Weg nach unten von dem Adligen Desportes geschwängert wird, geschieht das in einem Strohhaufen; und so zieht sich die Bürgerstochter später, wenn sie ihr uneheliches Kind zur Welt bringt, einen Strohwisch zwischen den Beinen hervor. Und wie es sich für die Felsenreitschule gehört, spielen Pferde mit, was seine Bedeutung haben mag, vor allem aber für Ausstattungseffekt sorgt – soll den Salzburger Festspielen nicht billig sein, was der Arena von Verona recht ist? Im Übrigen gibt es einiges an szenischer Action und etwas weniger an überzeugendem musikalischem Theater. Erst recht bleibt die Verlegung der Handlung in die Zeit des Ersten Weltkriegs, wovon die grossformatig gezeigte Pornografie aus jenen Jahren zeugt, dekorativ und beliebig.

Auf höchstem Niveau dagegen die musikalische Auslegung. Unter der überlegenen Leitung von Ingo Metzmacher zeigen sich die Wiener Philharmoniker ihren Aufgaben in bewundernswerter Weise gewachsen. Die Verschachtelungen auf der einen Seite, die Ballungen und Explosionen auf der anderen tun mächtige Wirkung; und die Räumlichkeit der Musik, auch ihre Simultaneität in der berühmten «Kugelgestalt der Zeit», ist fast körperlich erfahrbar. Durchwegs herausragend auch die vokale Besetzung. Laura Aikin ist eine lebenslustig tändelnde, nach und nach aber durch die Erniedrigung gezeichnete Marie, Thomas Konieczny ein Stolzius, der als Maries Verlobter zusehends zu einem zweiten Wozzeck wird, während Daniel Brenna einen Desportes gibt, dessen Selbstbewusstsein auf einem klaren Standesdünkel fusst. Von besonderer Eindringlichkeit die Generation der Eltern: der stimmgewaltige Alfred Muff als der Vater Wesener, Renée Morloc als die überbesorgte Mutter des Stolzius, vor allem aber die charismatische Gabriela Beňačková in der Partie der heuchlerischen Gräfin de la Roche. Geradezu erschütternd ist allerdings die Selbstverständlichkeit, mit der einem dies gewaltige Werk heute ins Ohr geht. 1965 eine Pioniertat, erscheint es in manchem historisch: als Klassiker der Moderne.

Viel von allem

Den szenischen Mängeln zum Trotz ist die Produktion der «Soldaten» eine Grosstat. Indessen täuscht sie nicht darüber hinweg, dass die Salzburger Festspiele im ersten Jahr unter der Leitung von Alexander Pereira künstlerisch eine ausgesprochen durchzogene Bilanz vorweisen. Um es auf einen einfachen Nenner zu bringen: Die Salzburger Festspiele sind diesen Sommer nicht neu erfunden, vielmehr ein wenig abgeschafft worden. Grund dafür ist in erster Linie ein Wertewandel zulasten der künstlerischen Idee. Was ist nicht gelästert worden in den bald 25 Jahren seit dem Tode Herbert von Karajans: über Gerard Mortier und seine angeblich verfehlten Sängerbesetzungen, über Peter Ruzicka und seine angeblich zu geringe Lust am Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, über Jürgen Flimm und sein angeblich zu ausgeprägtes Ego. Stets ist es dabei aber in einer Weise um Kunst und künstlerische Konzepte gegangen, wie es die Festspielgründer vorgelebt hatten; in dem einen, wunderbaren Jahr mit Markus Hinterhäuser fand das seine Kulmination.

Mit Alexander Pereira haben sich die Salzburger Festspiele nun einen Intendanten ausgewählt, der – und das war nach den Jahren Pereiras am Opernhaus Zürich wohlbekannt – auf den grossen Betrieb setzt. Möglichst viel von möglichst allem, das erscheint als seine Devise. So war es im Wiener Konzerthaus, dessen Angebot er bedeutend erweitert hat; so war es im Opernhaus Zürich, wo sich die Premieren im Dreiwochenturnus folgten. Und so ist es jetzt in Salzburg, wo die Festspiele kurzerhand um eine Woche verlängert wurden und es nicht weniger als sieben neue Opernproduktionen gegeben hat, davon je eine als Übernahme von Ostern und Pfingsten. In den vergangenen Jahren waren es deren drei bis vier gewesen.

Die Steigerung ist symptomatisch. Unschlagbar im Akquirieren von Sponsorengeldern und ein Verkäufer von höchsten Gnaden, hat er stets den Mehrwert im Blick. Eine der ersten Nachrichten aus dem Pressebüro, die an die Redaktionen gingen, nachdem Pereira sein Amt angetreten hatte, verkündete: Eine Million Dollar gesammelt – in New York, für die neue «Zauberflöte» auf alten Instrumenten. Im Zentrum steht die Summe; dass die Salzburger «Zauberflöte» nichts Aussergewöhnliches mehr darstellt, auch in Salzburg nicht, wo René Jacobs bei der Mozartwoche 2011 seine Version der Oper Mozarts vorgestellt hat – das verliert gegenüber der reinen Zahl an Bedeutung. Mittlerweile wissen wir sogar, dass die Opern auf der Leinwand des Salzburger Kapitelplatzes von mehr als 500 000 Menschen besucht worden sind.

In der Sache selbst kommen aber doch befremdliche Verwerfungen zum Vorschein. Blick zurück auf das Opernprogramm dieses Sommers. Mozarts «Zauberflöte» mit dem Concentus Musicus und Nikolaus Harnoncourt in der Felsenreitschule: ein interessantes Projekt am falschen Ort, in einem viel zu grossen Raum. «Das Labyrinth» des Münchner Hofkomponisten Peter von Winter als eine Art Fortsetzung der «Zauberflöte»: das falsche Stück, weil musikalisch von geradezu unerträglicher Bescheidenheit; an Festspielen wie jenen in Salzburg hat so etwas nichts zu suchen. Puccinis «Bohème» mit Daniele Gatti: der falsche, da chronisch zu laute Dirigent – ist es erstaunlich, dass Piotr Beczala, der Rodolfo neben der Mimì von Anna Netrebko, bald nach der Premiere «wegen Erkrankung» ausgefallen ist? Bizets «Carmen» mit Magdalena Kožená in der Titelpartie: eine eklatante Fehlbesetzung mit einer Sängerin von grossartigem Können, die jedoch, wie auch die CD-Aufnahme zeigt, für diese Partie nicht gemacht ist.

Vor allem aber: «Zauberflöte», «Bohème» und «Carmen» in ein und demselben Programm – dass ein so geringes Mass an künstlerischem Denken bei den Salzburger Festspielen möglich sein würde, hat sich bis zum Sommer 2012 niemand vorstellen können. Damit lassen sich Massen fangen und Kassen füllen, dem Ruf der Institution ist es abträglich. Das Kuratorium scheint es erkannt zu haben; es ist zu hoffen, dass es aufrecht bleibt.