Uraufführung am Genfer Grand Théâtre

Die Oper «JJR (Citoyen de Genève)» von Ian Burton und Philippe Fénelon wurde in Genf uraufgeführt. Die etwas sperrige Musik erhielt dank makellos bewältigter Aufführung unter dem Dirigenten Jean Deroyer dennoch etwas Glanz.

Alfred Zimmerlin
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Die Statue des General Dufour vor dem Grand Theatre in Genf. (Bild: KEYSTONE/Laurent Gillieron)

Die Statue des General Dufour vor dem Grand Theatre in Genf. (Bild: KEYSTONE/Laurent Gillieron)

Revolutionäre Sprechchöre in Schwarz schreiten am Schluss in die Zukunft beziehungsweise dem Publikum entgegen; ihre Forderungen beruhen auf Gedanken, welche der Universalgelehrte Jean-Jacques Rousseau vor nicht ganz dreihundert Jahren notiert hatte, und kommen dennoch einer Verzerrung gleich. Der alte Rousseau, er wendet sich abgestossen ab, um sich einsam auf eine botanische Exkursion zu begeben.

Mit diesem von Robert Carsen kraftvoll inszenierten Zwiespalt endet die Oper «JJR (Citoyen de Genève)» von Ian Burton (Text) und Philippe Fénelon (Musik). Genf, das als Hochburg des Calvinismus seinerzeit Rousseaus Bildungsroman «Emile» noch öffentlich verbrennen liess, feiert damit den Philosophen, Schriftsteller, Naturforscher und Komponisten auf der Opernbühne. «JJR» ist im Auftrag der Stadt Genf und des Genfer Grand Théâtre zur Feier des dreihundertsten Geburtstags von Rousseau entstanden und wurde nun im Genfer Bâtiment des forces motrices uraufgeführt.

Bebilderte Philosophie

Jede Zeit interpretiert Rousseau neu. Die Unmengen von auch widersprüchlichen Gedanken, die er während seines Lebens festgehalten hat, sind brisant genug, um Stoff für ein fast zweistündiges «Divertissement philosophique en sept scènes et une huitième-vaudeville» abzugeben. Das Libretto erfüllt, was der Untertitel sagt, und bebildert intelligent, plausibel und höchst unterhaltsam Philosophie. Ian Burton zeigt Rousseau (JJR) gleichzeitig in drei Lebensaltern, als 12-, 21- und 66-Jährigen, was ihm sofort die Reflexion verschiedener Zeiten bis zur Gegenwart ermöglicht. So verteilt der alte JJR3 in der heilen Gartenwelt von Madame «Maman» de Warens Flugblätter, die für Atomausstieg und ökologisches Bewusstsein werben, unter anderem an den schwärmerischen JJR2.

Bild um Bild erscheinen Rousseaus Themenkreise wie Natur, Gott, Erziehung und Gesellschaft, Sex, Geld, Musik. Die Biografie ist zwar präsent, doch geht es primär um die Dramatisierung von Ideen. Das gelingt Burton, indem er sie personifiziert und dramatisches Potenzial aus dem Widerspruch entwickelt: Voltaire, der alte Rousseau-Gegner, tritt ebenso in Erscheinung wie Diderot, der Atheist de Sade oder Robinson Crusoe. Und da ist der bodenständige, einiges relativierende Alltag mit Rousseaus Lebenspartnerin Thérèse.

Die Musik hat Philippe Fénelon weitgehend nach einem Collage-Prinzip mit Zitaten, Stilkopien und Parodien gebaut und einigermassen farbenfroh instrumentiert. Im Übrigen bewegt sich der bald 60-jährige Franzose in einem postseriellen Idiom, das allerdings wenig Prägnanz hat. Die Form mit sieben Szenen und einer proportional grösseren achten als Vaudeville-Finale ist sinnigerweise Rousseaus eigener Oper «Le devin du village» abgeschaut. Und dieses Finale rückt Rousseaus Musik-Artikel für die «Encyclopédie» und den «Dictionnaire de musique» ins Zentrum. Der von ihm transkribierte «Ranz des vaches» darf dabei ebenso wenig fehlen wie die Stichworte Kastrat, Rezitativ, Arie, seine eigene neue Musiknotation oder natürlich Pantomime und Oper.

Fénelons Parodietechnik kann einen kurze Momente packen und faszinieren, langweilt dann aber mit ihrer unverbindlichen Weitschweifigkeit bald. Das meiste zwischen Barock, Rousseau, Wagner und Rap wird ebenso bemüht wie der amerikanische Minimalismus à la Adams und Glass, mit welchem – ach, wie lustig – die Szene mit dem für Geld Musik abschreibenden Protagonisten unterlegt wird. Die witzige Vielschichtigkeit des Librettos wird so brutal an der Entfaltung gehindert. Da gibt Regisseur Robert Carson als Dritter im Bunde zusammen mit Radu und Miruna Boruzescu (Bühne und Kostüme) wieder kräftig Gegensteuer und tut alles, um sein Publikum dennoch bei der Stange zu halten, öffnet Denk-Räume und schafft Poesie. Er tut dies mit sichtlichem Genuss, einfachen, klaren Bildern und Linien, verspielten Idyllen und ohne didaktischen Zeigefinger.

Eher steife Linien

Dass der Abend trotz Fénelons mehr als problematischer Musik musikalisch erquicklich verlief, ist vorab dem Dirigenten Jean Deroyer zu verdanken, der sich engagiert für eine makellose Uraufführung eingesetzt hat, aber auch dem differenziert und spannungsvoll spielenden Ensemble Contrechamps im Orchestergraben, dem Chor des Grand Théâtre (Einstudierung: Ching-Lien Wu) und den Sängerinnen und Sängern, welche sich bemühten, ihre eher steifen Linien zum Blühen zu bringen. Ausgezeichnet das Protagonistentrio mit dem Kontratenor Jonathan De Ceuster (JJR1), dem Bariton Edwin Crossley-Mercier (JJR2) und dem brillierenden Tenor Rodolphe Briand (JJR3). Die Rolle der Thérèse gewann mehr und mehr an Gewicht, so kam man in den Genuss der Verführungskraft von Isabelle Henriquez' Mezzosopran. Erfreulich ebenso die kürzeren Auftritte von Allison Cook (Mme de Warens), Christian Immler (Vicaire) oder François Lis (Sade/Voltaire) und weiterer angenehm besetzter Nebenrollen.

Weitere Vorstellungen am 18., 20., 22. und 24. September.