Oldenburg - Über losgelöste Körperteile lassen sich Geschichten schreiben. Bei Patricia Highsmith schickt in ihren Episoden „für Weiberfeinde” ein Vater eine Hand seiner Tochter einem Verehrer: „Sie hatten um die Hand meiner Tochter gebeten.“ Bei Oscar Wilde und Richard Strauss fordert die dekadente Prinzessin Salome gleich den Kopf von Johannes dem Täufer. Natürlich, jeder Freund der gleichnamigen Oper weiß es, bekommt sie das Prophetenhaupt. Aber leider wird dem Besucher in der Inszenierung von K. D. Schmidt im Oldenburger Großen Haus manches andere vorenthalten.
Kein Tanz
Da wäre der „Tanz der sieben Schleier“. Man ahnt früh, dass die stimmlich eindrucksvolle Allison Oakes keine Frau graziler und sinnlich aufreizender Bewegung sein würde. Aber dass die Regie sie gar nicht tanzen lässt, während die Musik so dazu drängt? Es sind viele Varianten bekannt, vom einfachen Strip über den Schattenwurf auf einem Vorhang bis zu sieben Doubles für jeden Schleier. In Oldenburg sind keine Operngläser nötig. Salome setzt sich zu Mutter und Stiefvater aufs Sofa und entblößt als Höhepunkt den Oberkörper.
Dabei beginnt dieser Abschnitt um den Tanz in dem hundertminütigen Einakter schlüssig. Nachdem Salome in ihrem erotischen Werben um mindestens einen Kuss des gefangen gehaltenen Johannes/Jochanaan abgeblitzt ist, schließt sie sich statuarisch in ihrem Hass ein. Aus dieser eigenen Isolation heraus wiederholt sie erschaudernd siebenmal die unumstößliche Forderung: „Gib mir den Kopf des Jochanaan!“ Doch dazwischen liegt der Bruch.
Es mag dem Regisseur diesmal am ganz großen Mut gefehlt haben. Die Strauss-Oper von 1905 war ein szenisch verstörendes und musikalisches visionäres Psychodrama. Hier aber ist es ein solider tagestüchtiger Entwurf mit intelligenten, aber nicht immer zwingenden Verknüpfungen.
Wie Besucher im Innern der Weltkugel von Gottorf bei Schleswig sitzen können, so ist auf der dicht gestalteten Bühne von Maren Greinke die Gesellschaft am Hof von Herodes unter einer Kuppel zusammengerückt. Wenn graue Vogelschwärme über diesen Himmel ziehen, kommt Untergangsstimmung auf. Da deutet sich auch die angestrebte politische Dimension an. Während sich die verfallende Staats-Welt auf Waffengewalt stützt, bricht in der Menschen-Welt der moralische Halt zusammen.
Mit Rucksack
In Oldenburg beeindruckt die musikalische Größe. Der Sopran von Allison Oakes trägt bis in Wagnersche Dimensionen hinein (leicht zu Lasten von versteckter Erotik). Derrick Ballard als Jochanaan schmettert seine Weissagungen mit Posaunenwucht heraus (was er noch differenzieren könnte).
Albert Bonnema erreicht als hysterischer Herodes hohe Glaubwürdigkeit. Stimmlich gut bestückt das übrige Ensemble, etwa Daniel Ohlmann (Narraboth) oder Saskia Klumpp (Herodias).
Roger Epple und dem Staatsorchester in reduzierter Besetzung gelingen Tonräusche, Verflechtungen, Differenzierungen, Charakterisierungen und jähe Übergänge zwingend. Der neue Generalmusikdirektor glättet die bitonalen Dissonanzen wenig, lässt sie in ihrer stechenden Schärfe reiben und knirschen. Folglich steigert er die melodischen Aufschwünge bis zum warmen Wohlklang, nicht aber zum Luxus. Eine recht moderne Lesart.
Das lässt den szenischen Schluss nicht unlogisch erscheinen. Die Musik deutet ja eine Vereinigung der Hass-Liebenden an. Jochanaan, mit Kopf, schultert also seinen Rucksack, nimmt Salome, mit vom Propheten gestellten Wanderschuhen, an die Hand und schreitet davon.
Kopflos? Oder doch genial?