Wirklichkeit, Traum und Wahn

In seiner zweiten Oper bedient sich der Schweizer Komponist Andrea Lorenzo Scartazzini E. T. A. Hoffmanns Erzählung «Der Sandmann». Er nähert sich dem Unheimlichen, indem er die Wahnvorstellungen der Hauptfigur erlebbar macht.

Michelle Ziegler
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Traumgesichte? – Nathanael (R. McKinny), Clara (A. Eichenholz) und Lothar (M. Spehar). (Bild: Monika Rittershaus)

Traumgesichte? – Nathanael (R. McKinny), Clara (A. Eichenholz) und Lothar (M. Spehar). (Bild: Monika Rittershaus)

In seiner saloppen Art bringt Nathanaels Vater die Marter seines Sohnes auf den Punkt: «Wie leicht es ist, einen jungen Menschen zu zerstören. Ein Junge schleicht sich in meinen Arbeitsbereich ein, sieht zwei Männer über eine Tote gebeugt, dazu ein paar Schauermärchen, Schuldgefühle – und schon haben wir eine paranoide Schizophrenie». In nuce fasst er dabei den Inhalt der Oper «Der Sandmann» von Andrea Lorenzo Scartazzini zusammen, die als Auftragswerk des Theaters Basel im Rahmen der «Journées Contemporaines» uraufgeführt worden ist. Scartazzini und der deutsche Dramatiker Thomas Jonigk, der das Libretto geschrieben hat, fokussieren in ihrer Ausdeutung auf das Innenleben der Hauptfigur Nathanael: auf deren aus der Kindheit herrührende Ich-Störungen und auf Wahnvorstellungen, in denen sich die Trennlinien zwischen Realität, Traum und Vorstellung auflösen.

Wer existiert?

In ihrer Interpretation des «Sandmann»-Stoffs folgen Scartazzini und Jonigk aber nicht der Vorlage, sondern sie deuten sie «frei nach Motiven E. T. A. Hoffmanns» aus. Dabei verändert sich die Erzählweise: Das Publikum erfährt das Geschehen aus der Sicht Nathanaels und erlebt die Wahnvorstellungen mit. Nathanaels Welt ist auf einen karg eingerichteten grauen Raum beschränkt, eine einengende Zelle, die als sein eigenes Bewusstsein gedeutet werden kann, in dem Versatzstücke aus seiner Vergangenheit und Vorstellungen seiner Zukunft einander durchdringen.

Die Zerbrechlichkeit der Wahrnehmung einer objektiven Realität, an der sich das Individuum festhält, wird dabei für das Publikum nachvollziehbar. Die Frage, ob Nathanael verrückt ist, bleibt am Ende unbeantwortet; zwischen Wirklichkeit und Traum kann nicht mehr getrennt werden. Wer existiert in Nathanaels Welt: der tote Vater und der tote Coppelius oder die realitätsnah dargestellte Clara mit Lothar?

Musikalisch unterstreicht Scartazzini die beklemmenden Wahnvorstellungen Nathanaels, indem er diffuse Stimmen oder Klänge über Lautsprecher von verschiedenen Seiten auf das Publikum eindringen lässt, wodurch die Entfernung zum Geschehen auf der Bühne immer wieder aufgehoben wird. Diese Nähe zur Erfahrungswelt Nathanaels, die Scartazzini mit musikalischen Mitteln herzustellen wunderbar gelingt, wird aber immer wieder durchbrochen mit saloppen Sprüchen der beiden Toten, welche nicht mehr an menschliche Gefühlswelten gebunden sind und sich ungezwungen über Nathanaels Probleme und seine Erziehung unterhalten. Witz und Humor vermögen aber nicht zu wirken, die Scherze sind zu flach, Ansätze eines Lächelns gefrieren auf den Gesichtern. Damit erhält die Interpretation, bewusst oder unbewusst, eine düstere Komponente: Psychische Traumata und Belastungen werden zum oberflächlichen Plauderthema. Neben dem Fluktuieren zwischen Traum und Realität wird damit ein Spiel mit Nähe und Distanz versucht, das sich eindeutiger Aussagen enthält und viel Deutungsspielraum zulässt – wie Hoffmanns Vorlage. Auch die Inszenierung Christof Loys fokussiert auf das Innenleben der Einzelfiguren und wirkt nur in den grotesken Chorszenen mit Klamauk.

Tagträume

Wie in Hoffmanns Vorlage ist die Erzählung auch in Jonigks Libretto von Brüchen geprägt. Nathanael träumt von seiner Zukunft, vom Ruhm, den er mit seinem autobiografischen Roman erfahren wird. Gefeiert wird er dabei in einer Lesung, in die Clara voller Wut hineinplatzt, da sie entdeckt hat, dass sie im Roman bereits auf den ersten Seiten stirbt und ihre Leiche als Objekt sexueller Begierden dient. Die Geschehnisse des Romans überlagern sich mit der Kindheitserinnerung Nathanaels, dass der Vater und der vermeintliche Sandmann Coppelius nachts Leichen zur Bestattung präparierten. Im Roman handelt es sich um den zerschmetterten Kiefer Claras, den sie wiederherstellen, als der Sohn ins Zimmer tritt.

Dabei entfernen sich Jonigk und Scartazzini von Elementen, welche in der Vorlage Hoffmanns die Zeichen der Zeit tragen – wie eben die alchemistischen Experimente, welche Vater und Coppelius bei Hoffmann zu später Stunde durchführen. Und auch die mechanische Puppe der Vorlage wird bei ihnen zu einem Clara ähnlichen Science-Fiction-Wesen, das über Mikrochips gesteuert wird und in verschiedenen Ausführungen erhältlich ist. Die Anlage führt zur Kontrastierung der Clara-Figur mit ihren imaginierten Bildnissen: der Romanfigur und der Puppe. Diese Ausdeutung der starken weiblichen Hauptfigur gelingt in der Uraufführung dank Agneta Eichenholz, welche die Verwandlung von der emanzipierten, kalten Dame der Gesellschaft zur animierten Sexpuppe perfekt inszeniert: mit dümmlich-künstlichem Lächeln, mit leicht geöffnetem Mund und mit anzüglichen Bewegungen. Nathanael, dessen schizophrene Ausbrüche Ryan McKinny – ebenfalls eindrücklich – auf die Bühne bringt, wird von seinen Trieben gesteuert und macht sich dabei zum Clown.

Diskrepanzen

Zur Eindringlichkeit der Oper trägt zudem Scartazzinis intelligent komponierte Musik bei. Immer wieder schafft er musikalisch Diskrepanzen, indem etwa eine expressive Kantilene der Solovioline besonders kaltblütige Kommentare der beiden Alten begleitet oder indem sich während der Versöhnung der Liebenden mikrotonale Reibungen der Streicher zur bedrohlichen Kulisse auftürmen. Das Sinfonieorchester Basel geht die komplexe Partitur unter der Leitung des tschechischen Dirigenten Tomáš Hanus sorgfältig an und achtet auf eine saubere Klangbalance, was den Sängern den nötigen Halt gibt. Der Chor des Theaters Basel steigert die Chorszenen wunderbar ins Absurde. Stimmlich überzeugten McKinny wie Eichenholz und Marko Špehar (Lothar), einzig die beiden Alten, Thomas Piffka und Hans Schöpflin, blieben in der Uraufführung etwas farblos.