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Hier haben Ausstattung und Musik riesige Ausmaße. Szene aus Jörg Widmanns „Babylon“-Oper. Foto: drama-berlin.de

© Predieri/drama-berlin.de

Oper: Himmlische Sieben

Dein Volk ist mein Volk - und Dein Gott ist mein Gott: Die Uraufführung von Jörg Widmanns und Peter Sloterdijks „Babylon“ an der Bayerischen Staatsoper.

Am Anfang tritt der Intendant der Bayrischen Staatsoper, Nikolaus Bachler, vor den Vorhang und sagt, dass der Abend Hans Werner Henze, dem gerade verstorbenen großen Komponisten, gewidmet sei. Wer eine solche Zueignung wagt, muss sich seiner Sache und ihres Wertes relativ sicher sein. Es ist ein Abend voller Zauber. Umjubelt wird im Nationaltheater die Uraufführung der Oper „Babylon“ von dem Henze-Schüler Jörg Widmann, die als immense Gesamtleistung eines Opernhauses kaum zu überbieten ist.

Orientalische Nacht in den Hängenden Gärten von Babylon. Eine Klarinette sendet sehnsuchtsvolle Botschaften. Die Klarinette ist das Instrument des Musikers Jörg Widmann, der mit Babylon seine erste abendfüllende „Oper in sieben Bildern“ präsentiert, im Auftrag der Bayerischen Staatsoper. Erstmalig tritt mit dem Werk auch Peter Sloterdijk als Librettist in Erscheinung, poetisch sieht er die nächtliche Metropole am Euphrat. Die Idylle ist ein seltener, besonders schöner Ruhepunkt. Und die Seele singt vom „Fest des Lichts – weit, hoch, herrlich, drüben, frei“. Die Seele ist die platonische Oppositionsfigur der sinnlichen Liebesgöttin Inanna. Zwischen ihnen steht der jüdische Jüngling Tammu.

Ein babylonisches „Opferfest“ aber folgt, das brutale Menschenopfer des Israeliten Tammu, den wiederum der babylonische Priesterkönig liebgewonnen hat. Gezeigt wird eine Welt aus den Fugen: Leid und Chaos, eine große Sintflut, mythologische Tiefe im Brunnen der Vergangenheit, Kultur zwischen Euphrat und Tigris. Ein Welttheater der Menschheit. Darin erblüht eine veritable Liebesgeschichte zwischen Tammu und Inanna, dem Juden und der Babylonierin: „Dein Volk ist mein Volk. Und dein Gott ist mein Gott.“ Die Liebesgeschichte endet glücklich, weil es der Frau gelingt, den geopferten Mann aus der Unterwelt zurückzutragen ins Leben. In gelebtes, befristetes Leben wohlgemerkt, nicht in die Unsterblichkeit.

Märchen ist darin, die Zauberflöte, nicht zuletzt die Rehabilitation der „Hure“ Babylon als eine Theologie der himmlischen Sieben, die Ordnung der siebentägigen Woche. Man staune also in der Oper über Genitalseptette, sieben Planeten, sieben Affen, ein Regenbogenseptett, alles in ausgezeichneter Besetzung dargestellt. Und ein Prinzip Hoffnung für alle Zeit klingt an, wenn Jüdischer und Babylonischer Chor momentweise dieselben Worte singen. Vor- und Nachspiel gehören dem Skorpionmenschen aus dem Gilgamesch-Epos in Gestalt des Countertenors Kai Wessel. Die Rolle ist eine Beunruhigung, Unheil reflektierend, Skeptiker. Peter Sloterdijk hat ihm Prophezeiungen von Josua und Jesaja in den Mund gelegt, und in seiner Dichtung wird aus dem „Sohn“, auf dem das Alte Testament so selbstverständlich beharrt, ein „Kind“. Peter Sloterdijk sagt, „dass bedeutende Musik auch immer mit dem Wiederfinden einer verlorenen Musik zu tun hat“.

Diesen Gedanken über die Kooperation mit Jörg Widmann reflektiert auch sein Libretto: Poesie der Aneignung aus Liebe zu Babylon, Mythos, Geschichte. Die Musik hat extreme Ausmaße. Ein Riesenorchester, eine Flötenfamilie von Piccolo bis Bass, Klarinetten in Es bis Kontrabassklarinette, viel differenziertes Blech, Streicher über acht Kontrabässen, viel Schlagwerk, postiert in den Logen, Harfen, Celesta undundund. Überall Disparatheit, auch dort, wo Vertrautes durchschimmert: polytonal verfremdet, in der Farbenfülle seltsam anheimelnd, gigantisch in den Klangkräften der Katastrophen, emotional in der Klage über die verheerte, rauchende Stadt, Melancholie, unter den Mitteln Sprechgesang und Melodram. Der Dirigent Kent Nagano wird vor allem für seine engagierte Koordination der Massen gefeiert. Der Euphrat, der über seine Ufer tritt und zum Meer wird, ist eine majestätische Frau, eine Opernerinnerung in der Verkörperung der als Mezzo beeindruckenden Gabriele Schnaut. Ihr kommt die wunderbare Inszenierung von Carlus Padrissa und der katalanischen Theatertruppe La Fura dels Baus zu Hilfe, indem sie unentwegte Bewegung auf der Bühne (Roland Olbeter) mit modernem Maschinentheater und Video verbindet. Trümmermänner arbeiten ewig am Wiederaufbau der Stadt. Die Videos sind nicht gewöhnliche Illustration, sondern schöpferisch als kunstvolle Interpretation in der Gleichzeitigkeit: in Großaufnahme das liebende Paar, während es singend auf der Bühne sitzt, das Totenreich, wo nackte Leiber sich windend unangenehme Assoziationen an Maden wecken, bis der Tod Inannas Flehen erhört. Wogen mit Tsunami-Schlag scheinen in die Unendlichkeit zu reichen. Die Technik der Göttervideos erinnert an Schlingensiefs verwesenden Hasen.

Die Aufführung hat ihre Längen, die aber nicht gefährlich sind, weil sie von zwei exzellenten Sopranen und Darstellerinnen beherrscht wird: Anna Prohaska als Inanna und Claron McFadden als Seele. Willard White mit allerbester Textdeutlichkeit (Priesterkönig/Der Tod) und Jussi Myllys (Tammu) führen die Männerstimmen des zahlreichen Ensembles an. Bemerkenswert, dass bei der großen Fülle der Erscheinungen auf der Bühne nie der Eindruck von Gewühl oder Gewimmel entsteht.

Und trefflicher kann das Ende einer Oper von heute nicht formuliert werden, als es der Skorpionmensch mit einem Wort von Gottfried Benn tut: „Weiß es auch heute nicht und muss nun gehen.“

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