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Kultur Sloterdijk goes Oper

Die „Große Hure“ aus der Megacity

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Dahinter steht immer die Hure Babylon. Szenenbild aus Jörg Widmanns neuer Oper Dahinter steht immer die Hure Babylon. Szenenbild aus Jörg Widmanns neuer Oper
Dahinter steht immer die Hure Babylon. Szenenbild aus Jörg Widmanns neuer Oper
Quelle: BAYERISCHE STAATSOPER
Jörg Widmann ist der Klassik-Komponist der Saison, Peter Sloterdijk seit Jahr und Tag der deutsche Vorzeigephilosoph. Jetzt haben sie zusammen Musiktheater gemacht. Eine Uraufführung in München.

Viel mehr als zwei Handvoll sind es nicht. Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig, Paul Claudel, Bert Brecht, W. H. Auden, Ingeborg Bachmann, Edward Bond, Hans Magnus Enzensberger (die letzten vier alle für den soeben verstorbenen Hans Werner Henze), Marcel Bayer, Elfriede Jelinek, Martin Crimp, Roland Schimmelpfennig. So heißen die angesehenen Schriftsteller und Autoren, die auch mal für das Musiktheater schrieben.

Das „Libretto“, der Operntext, ist ja auch wortwörtlich nur ein despektierliches „Büchlein“. Zwar wurde in mehr als 400 Jahren Operngeschichte trefflich gestritten, ob nun das Wort oder die Musik auf der Szene den Vorrang habe, aber meist hat man sich für „prima la musica, dopo le parole“ entschieden. Auch Mozart fand: „Die Poesie muß schlechterdings der Musick gehorsame Tochter“ sein.

Ein Philosph als Librettist

Ein Philosoph aber als Librettist? Da fällt einem nur Massimo Caccari ein, immerhin auch 15 Jahre lang Bürgermeister Venedigs, der für Luigi Nonos „Prometeo“ den kryptischen Text kompilierte. Das nannte sich im Untertitel „Tragödie des Hörens“. Ähnlich ambitioniert tritt jetzt – Willkommen im Club – der Salonphilosoph Peter Sloterdijk als Musiktheatertextdichter an: „Oper in sieben Bildern“, nennt sich schlicht, was dann doch das ganz große Weltdenkgebäude verheißt: „Babylon“. Ort der Welturaufführung: Die Bayerische Staatsoper, wo man noch nie für das Kleine, gar Schlichte zu haben war.

Darum tritt zum hochberühmten Erstlingsdichter ein zumindest in Neue-Musik-Kreisen ebenso bekannten Tonsetzer dazu, der selbst wiederum den angeblich zaudernden Sloterdijk bereits vor zwei Jahren mit viel Wein auf der berüchtigten Dachterrasse des Salzburger Hotel Stein als Kollaborateur angefixt hatte: der Münchner Jörg Widmann 39, wunderbarer Klarinettist und Freiburger Professor, eloquenter wie versatiler Composer in Residence zum Anfassen bei jedem nur denkbar bedeutenden Festival, nach Henze und Rihm und neben Matthias Pintscher inzwischen der für den Betrieb wichtigste Deutsche.

Von Burda bis Roland Berger

Widmanns erste (Kammer-)Oper, die Börsen- und Biotec-Parabel „Das Gesicht im Spiegel“ (Libretto: Schimmelpfennig) wurde vor neun Jahren schon an der Bayerischen Staatsoper erfolgreich uraufgeführt. Freilich noch intim im Cuvilliéstheater. Jetzt aber war großer Bahnhof der Bewunderer angesagt, von Burda bis – mindestens – Roland Berger (der auch dafür gezahlt hatte). Die meisten waren natürlich wegen des prominenten Seiteneinsteigers gekommen. Der TV-bekannte, aber nicht selten auch für zu leicht befundene Vordenker der Nation gibt jetzt also auch noch Münchens musiktheateraffinen Maximilianstraßen-Philosoph.

Sloterdijk tat ihnen den Gefallen, schmiss sich voll aufs Wort, das ihm nie fehlt; sind doch die katholische Kirche und die Oper die letzten Schutzräume für Pathos pur, weil die Musik alles aufbläht. Kein Naturalismus und kein Realismus, so lautete die weltdenkerische Wegrichtung, kein vertonter „Tatort“ und kein Religionsessay. Die Turmstadt Babylon, die schon in der Musikgeschichte von Rossinis „Semiramide“ bis Verdis „Nabucco“ und Boney M nicht eben gut wegkommt, von der Bibel als „Große Hure“ gebrandmarkt wird, sollte nun als die erste verwirrend globale Megacity, Erfinderin der Schrift, der Woche, des Rades, liberaler Gesetze und der freien Liebe gefeiert werden.

Urbild von Multikulti

Auch der sonst so begeisterungsfähige, sympathisch geerdete Widmann erging sich vorab in großen Bildern, sprach von weggeschaufelter Grabungsarbeit des Komponisten, der mythischen Metropole als Urbild der multikulturellen Gesellschaft, von gleichmacherischem Pluralismus, polystilistischem Wirrwarr des Hohen und des Trivialen in drastischen, unversöhnlich harten Schnitten, schwärmte von Überlagerung und Gleichzeitigkeit zwischen Karneval und Bibelexegese. Für die über 700-seitige Partitur mit bis zu 94 Stimmen musste eigens das Dirigentenpult nach oben vergrößert werden. Zudem wurde elf Tage vor der Premiere die letzte Note komponiert, in der Hauptprobe war erstmals die gesamte Musik zu hören.

„Babylon“, mit einem hier gewohnt souverän den riesigen, auch aus den Prozeniumslogen mit einigen der sieben Perkussionisten herabschallenden Klang- und Bildapparat zusammenhaltenden Kent Nagano am Dirigier- und den routinierten Spektakelmachern der katalanischen Theatertruppe La Fura dels Baus am Regiepult, setzt von Anbeginn auf reichlich seltsame, ironiefreie Überwältigung. Es beginnt mit der Apokalypse, um sich dann stetig zu steigern.

Melancholische Melismen

Erst singt nur ein schwarzer, dem Gilgamesch-Epos entlehnter Skorpion-Countertenor (Kai Wessel) mit riesenhaftem Stachelschwanz über rauchenden Stadttrümmern seine melancholischen Melismen. Dann blasen wohl aus Jericho importierte buntscheckige Nackte auf frühgeschichtlichen Vuvuzelas, bevor der Chor mit Strawinsky-Wucht auf altbabylonisch seine Stadthymne anstimmt und sich die Videoprojektoren mit „Metropolis“-Bildfantasien warmlaufen.

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Der Libretto-, ja überhaupt Dramennovize Sloterdijk verortet sein Handlung während der Zeit der babylonischen Gefangenschaft der Juden, lässt einen Exilanten namens Tammu (tenorblass: Jussi Myllys) sich zum Liebesdreieck zusammenschließen mit nichts geringerem als der Seele (satter Sopran: Claron McFadden) und der knusprigen Liebespriesterin Inanna (dauergebucht als trittsichere Koloratur-Lolita der Moderne: Anna Prohaska).

Symbolik der Sieben

Drumherum treten in schönster Siebener-Symbolik in den sieben Bildern auf: sieben Planeten, die auch als Regenbogen fungieren, sieben Affen, sieben Vulven und sieben Phalloi (die auch mal aus der Intendantenloge singen), der über die Ufer wallende Fluss Euphrat (mit zwei Stimmen im Zweistromland: Gabriele Schnaut), ein vor sich hin brummelnder Priesterkönig (Willard White, der auch als Todes-Tunte zum Einsatz kommt), Trompeter im Minislip und der als eher protestantischer denn jüdischer Spielverderber fungierende Ezechiel (der Schauspieler August Zirner).

Der Tamino-ähnliche Tammu erlebt als neuer Noah die Sintflut, muss durch eine Feuer- und Wasserprobe, wird zum Menschenopfer, als Toter im umgekehrten Orpheus-Mythos von Inanna errettet und mit ihr gemeinsam zum Mond geschossen. Während nach Einsturz von Turm und Stadt im ewigen Event-Kreislauf nur noch der Skorpion sich klont.

Nichts passt zusammen

Scheinheiliger Bimmelbammel, hier passt wirklich nichts zusammen! Da eifert Sloterdijk vergeblich lallend dem begnadeten Lautmaler Richard Wagner (Wigalaweia, Hojotoho) nach, baut trockene Schulfunksätze, schwurbelt schamfrei, ergeht sich in Fantasy-Fatalität wie Esoterik-Klimbim und lässt altherrenkeck die klassische Sau raus („von Wollust dunkel das Menschenfrauenauge“, so singt’s im Genitalseptett). Das gipfelt während eines Polonaisen-Umzugs in dem existenzphilosophischen Rätselsatz: „Wer hat die Kokosnuss geklaut?“

Merke: Mit Musik darf man alles. Doch die fühlt sich hörbar unwohl. Denn der Librettist kennt keine Seelenräume, kaum nach Tönen rufende Leerstellen, nur wenige Momente, wo die Figuren einzig singen müssten. Jörg Widmann bietet Dodekaphonie, Pop, Jazz und ein öliges Musicalliebesmotiv auf, die Orgel donnert, die Tonfluten schwallen, der Bayerische Defiliermarsch trifft auf die „Lustigen Hoizhackerbuam“.

Orgiastisch bombastisch

Das ist hochkomplex, bleibt aber disparat. Buchstabensuppe an Klangsalat, orgiastisch bombastisch. Selten wirklich aufhorchen lassend. Montiert aus Versatzstücken und aneinandergereihten Fertigteilen, die nicht berühren und kaum etwas zu erzählen haben. Dazu kommt die aufgeblasen technoide Entertainment-Maschinerie von Carlus Padrissa und seiner La Fura-Truppe, die vorn die Figuren stoisch statisch verharren lässt und dahinter kreischbunt bilderballert, aber nie tiefschürfend interpretiert.

Den Münchnern hat es offenbar gefallen, sie wurden glamourös eingelullt, nie aufgerüttelt. Nur Sloterdijk wurde schüchtern ausgebuht. Dabei fragte man sich schon nach drei Stunden im Dur-seligen Sterntaler-Finale dieses singenden, klingenden Märchenwald-Menschenparks entgeistert: Hat das vielleicht alles Scientology finanziert?

Termine: 31. Oktober 3. (mit Livestream), 6., 10. November, 21. Juli

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