Opernuraufführung: Babylon, eine Multikulti-Utopie

(c) EPA (FRANK LEONHARDT)
  • Drucken

Philosoph Peter Sloterdijk deutet mit Jörg Widmann die biblische „Hure“ positiv: gelebte Multikulturalität und klare Rechtsregeln. Fazit von „Babylon“ in der Bayerische Staatsoper: Viel Liebe und etwas Langatmigkeit.

Als Schüler komponierte Jörg Widmann mit „Absences“ sein erstes Musiktheaterstück. Seit damals datiert die Beziehung zu seinem späteren Lehrer, Hans-Werner Henze, der am Vormittag der Premiere von Widmanns neuestem Opus, „Babylon“, verstarb. Die Bayerische Staatsoper widmete diese mit freundlichem Beifall bedankte Uraufführung Henzes Gedenken.

Er müsse Reichhaltigkeit zusammenhalten, sagt Widmann über seinen kompositorischen Anspruch. Zuletzt hatte er ein Werk für die Wiener Philharmoniker geschrieben, „Teufel Amor“. Dafür hatte ihn ein Fragment Schillers inspiriert, bei „Babylon“ – in dem auch die Liebe ein wesentlicher Inhalt ist – war es der erst in den letzten Jahrzehnten näher dechiffrierte Mythos der alten Stadt.

„Archetypisch und pompös“ soll Oper sein

Auf den ersten Blick scheint klar, worum es geht: Sünde, Ausschweifung, Sprengen aller Grenzen, die biblische „Hure Babylon“. Nicht so für Widmann und Peter Sloterdijk, der sich zum ersten Mal als Opernlibrettist versucht. Archetypisch und pompös lautet Sloterdijks Vorstellung von Oper; Opern als „vertonte ,Tatorte‘“ verabscheut er, sein Ansatz: einen Mythos den reaktionären Kräften entreißen und ins Humane transferieren. So macht er mit Widmann positive Errungenschaften Babylons dingfest: gelebte Multikulturalität und klare Rechtsregeln statt des „Aug um Aug und Zahn um Zahn“-Prinzips.

Babylons alte Rituale treffen auf die neue Gedankenwelt des Judentums. Angesprochen ist auch das Thema Exil, denn einer der Hauptprotagonisten, der Jude Tammu (exzellent: Jussi Myllys), Vertrauter des babylonischen Priesterkönigs (eindrucksvoll: Willard White), lebt im babylonischen Exil. Er erliegt den Reizen der babylonischen Priesterin Inanna (brillant: Anna Prohaska), die wie die gleichnamige Prinzessin die freie Liebe verkörpert. Tammu muss sich von seiner Seele (makellos: Claron McFadden) lösen, die in einem Stern aufgeht. Auch wenn Sterne nur Löcher im „Mantel der Nacht sind, die die verirrte Erde abends überwirft“ (Sloterdijk).

Dass Inannas Liebe über sexuelles Begehren hinausgeht, zeigt sie mit der Errettung Tammus aus der Unterwelt. Sie entreißt ihn den Fängen des Todes, entschwindet mit ihm im All. Mit seinem Menschenopfer zuvor sollte Tammu die Götter günstig stimmen. Gegen dieses überholte Ritual erwiesen sich selbst die aufrüttelnden, oft packend kontrapunktisch agierenden Klage- und Fluchgruppen der dem Eingottglauben verpflichteten Juden machtlos.

Die Sieben als mehrfacher Schlüssel

Sieben ist Babylons heilige Zahl, entsprechend ist die Oper in sieben Teile gegliedert, ergänzt durch Vor- und Nachspiel, in dem der Skorpionmensch (prägnant: Kai Wessel) erkennt, dass er gegen die Utopie städtischer Zivilisation nicht ankommt. Widmann und Sloterdijk schlagen den Bogen vom Turmbau zu Babel – als städtebauliche Errungenschaft gefeiert – über die Flut- und Schreckensmomente der musikalisch aufbrausenden Sintflut, das mit bayerisch folkloristischem Einschlag begangene Neujahrfest, die heftig kritisierte Opferung Tammus und Inannas erfolgreichen Gang in die Unterwelt bis zum Aufbruch in eine für das Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Sichten plädierende Zeit: „der neue Regenbogen“.

Trotzdem heißt es, wachsam zu sein. „Ihr Völker, lernt gefährlich leben. Baut Häuser, die schwimmen, baut Städte, die schweben“, sagen im siebten Bild das Kind und das Regenbogen-Septett. Zu siebt treten auch Planeten, Affen und die in etwas fantasielose Hüllen gesteckten Vulven und Phalloi auf. Sonst entwirft Carlus Padrissa von La Fura dels Baus eine durch Videos unterstützte, vielfältige Bilderwelt. Ihr technisch faszinierender Aktionismus lenkt zuweilen von der stilistisch abwechslungsreichen Musik ab.

Höhepunkt: Liebesduett aus Buch Ruth

Diese bringt viele raffiniert eingewobene Eigen- und Fremdzitate, nützt die Möglichkeiten des großen Klangapparats. Das dem Buch Ruth entlehnte Liebesduett von Inanna und Tammu, „Wo du hingehst, gehe auch ich“, war eines der stärksten emotionalen Momente dieses vor der Pause zu langatmigen Uraufführungsabends. Und dies trotz des stets um Spannung bemühten präzisen Dirigats von Münchens GMD Kent Nagano an der Spitze des hervorragend vorbereiteten Orchesters und Chors und ebensolcher Solisten – nicht zuletzt von Gabriele Schnaut als emphatischem Euphrat und August Zirner als prägnant artikulierendem Ezechiel.

Auf einen Blick

Vorbild für die multikulturelle Gesellschaft ist Babylon in der Oper des erfolgreichen Münchner Komponisten Jörg Widmann (* 1973) mit dem Text von Philosoph Peter Sloterdijk (* 1947). Widmanns erste Oper, „Das Gesicht im Spiegel“, widmete sich dem Klonen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.