Die Geburt des Orchesters

Zu seinem Einstand als Generalmusikdirektor der Staatsoper Stuttgart leitete Sylvain Cambreling die selten gespielte Oper «Der Schaum der Tage» von Edison Denissow. Die Produktion eröffnete vielversprechende musikalische Perspektiven.

Marco Frei
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Abstraktes Libretto, konkrete Bilder: «Der Schaum der Tage» von Edison Denissow in Stuttgart. (Bild: A. T. Schaefer)

Abstraktes Libretto, konkrete Bilder: «Der Schaum der Tage» von Edison Denissow in Stuttgart. (Bild: A. T. Schaefer)

Das Dirigieren ist kein Mysterium, sondern hat zuvörderst mit Können und Inspiration zu tun. Dies lässt sich derzeit an der Staatsoper in Stuttgart nachvollziehen, wo Sylvain Cambreling den «Schaum der Tage» («L'écume des jours») von Edison Denissow leitet. Es war die erste Opernpremiere, die der Franzose als neuer Generalmusikdirektor (GMD) des Hauses betreute. Sein Vorgänger Manfred Honeck wirkt beim Sinfonieorchester in Pittsburgh, und in Stuttgart nun war zu erleben, wie neu und anders ein Orchester nach einem Wechsel klingen kann.

Neue Farben, anderer Klang

Jedenfalls gelang es Cambreling, dem Stuttgarter Klangkörper eine ungeahnte farbliche Sinnlichkeit, luzide Transparenz und atmosphärische Verdichtung abzuringen – in Denissows Oper kein leichtes Unterfangen. Denn die Partitur changiert zwischen Avantgarde und Jazz, sinfonischer Geste und kammermusikalischer Reduktion, orthodoxem Kirchengesang und Schlager sowie Oper und Musical, und das Orchester wird um ein umfangreiches Schlagwerk, um Klavier, Cembalo, E-Gitarre und Saxofone erweitert. Das Wesensmerkmal dieser Musik sind der stilistische Kontrast und der Bruch.

Weil aber Cambreling auch klangliche Hintergründe suchte und ausgestaltete, dominierte nirgends ein vordergründiges, allzu direktes Zuviel. Effekte wurden zwar pointiert geschärft, nicht aber überzeichnet – die klangliche Differenzierung führte zu einnehmend warmen Orchesterfarben. Es kam zu bleibenden Höreindrücken, obwohl Cambreling, der zuletzt das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg geleitet hat und jetzt mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, ursprünglich seinen Einstand als GMD mit einer Uraufführung bestreiten wollte. Ganz oben auf der Wunschliste rangierte ein neues Werk von Mark Andre, das allerdings nicht rechtzeitig fertig wurde.

Das Stück soll nun in der Spielzeit 2013/14 aus der Taufe gehoben werden; dafür wurde mit Denissows «Schaum der Tage» ein Dreiakter wiederbelebt, der nach der Uraufführung 1986 in Paris ins Abseits geraten war. Die Stuttgarter Produktion zeigte, dass dieser Misserfolg nicht unbedingt dem Werk selber geschuldet ist – trotz einigen Tücken, die schon mit dem Libretto beginnen; der von Dmitri Schostakowitsch geförderte und 1996 verstorbene russische Komponist hat es selber aus dem gleichnamigen existenzialistisch-surrealen absurden Roman von Boris Vian herausgefiltert.

Im Zentrum des «Lyrischen Dramas» stehen die Paare Chloé (Rebecca von Lipinski) – sie ist der Melodie «Chloé» von Duke Ellington entsprungen – und Colin (Ed Lyon) sowie Chick (Daniel Kluge) und Alise (Sophie Marilley). Während sich die Wohnräume zusehends verengen, das Licht sich verdüstert und die Sprache grotesker wird, wächst krebsartig aus der Lunge Chloés eine Seerose. Obwohl Colin kein Mittel und kein Geld scheut, um seine Geliebte zu retten, stirbt Chloé – woran Colin zerbricht. Deswegen verfremdet Denissow das Sehnsuchtsmotiv aus Wagners «Tristan und Isolde». Dem parallelen Paar ergeht es nicht besser.

Statt die Hochzeit mit Alise zu finanzieren, erwirbt Chick zahllose Bücher von Jean-Sol Partre – keine Frage, wer hier gemeint ist. Von Polizisten und Steuereintreibern, die sich aus Schostakowitschs Oper «Lady Macbeth von Mzensk» verirrt zu haben scheinen, wird Chick misshandelt und niedergemetzelt. Alise wiederum kommt um, als sie aus Wut über Chick Bibliotheken in Brand setzt. Es ist nicht einfach, aus dieser Handlung, die im Grunde keine ist, eine stringente Inszenierung zu schustern – zumal sich Denissow auf die lyrischen und musikalischen Potenziale der Vorlage konzentriert.

Da aber Jossi Wieler, der Intendant der Staatsoper Stuttgart, und sein Dramaturg Sergio Morabito konkrete Szenerien entworfen hatten und die Symbolsprache in Wort und Musik visualisierten (Bühne: Jens Kilian, Video: Chris Kondek), führten sie sinnstiftend durch das Abstrakte. Auch wenn die Solisten darstellerisch und gesanglich zum Teil mit Bravour überzeugten, waren es doch der Chor und das Orchester, die unter der Leitung Cambrelings die stärksten Eindrücke hinterliessen. Tatsächlich eröffnet sich mit Cambreling als neuem GMD die Chance, weiter am Klang zu feilen und ihn zu flexibilisieren.

Öffnungen

Mit einiger Spannung lässt sich deshalb die für April 2013 angekündigte Wiederaufnahme von Wagners «Parsifal» mit Cambreling erwarten – einer Produktion von 2010, die damals Manfred Honeck geleitet hatte. Die erhellende, empathisch-feinsinnige Durchdringung von Denissows «Schaum der Tage» lässt hoffen, dass Cambreling die klangliche Atmosphäre in Calixto Bieitos sehenswerter Inszenierung einfängt, was seinerzeit unter Honeck nur teilweise gelungen ist. Sonst aber möchte Cambreling, der bereits in den 1980er und 1990er Jahren an den Opern in Brüssel und Frankfurt erfolgreich Akzente gesetzt hat, in Stuttgart ein besonderes Augenmerk auf Verdi und Mozart legen – neben Wagner, Ungewöhnlichem und Neuem.