Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
|
Der Wahnsinn lauert überallVon Roberto Becker / Fotos © A.T.Schaefer
Eine Literatur-Oper ist eigentlich nichts Besonderes in der Sparte Moderne. Edison Denisovs Der Schaum der Tage nach dem gleichnamige Kultroman von Boris Vian (L'Écume des jours) aus dem Jahre 1946 aber schon. Der 1929 in Sibirien geborene und 1996 in Paris gestorbene russische Komponist hat sie 1981 komponiert. Quasi privat und ohne die selbstzensierenden Rücksichten, die eine Aufführung in der Sowjetunion möglich gemacht hätten. Die Uraufführung dieses sowohl typisch russischen als auch unverkennbar französischen Dreiakters aus 14 Bildern und 7 Intermezzi fand denn auch 1986 in der Pariser Opéra-comique statt. In Deutschland war sie 1991 das erste Mal in Gelsenkirchen und dann nur noch einmal in Mannheim zu sehen. Diese Rarität ist also im Grunde immer noch nahezu unbekannt. Vielleicht ändert sich das ja nach dieser Produktion. Das besondere Dinner
Die surreal mäandernde Geschichte fängt zunächst an mit zwei Bohème-Paaren in einem Paris, in dem der Philosoph Jean-Sol Partre, also kein Geringerer als Sartre, der Star ist. In einer fast schon boulevardesk heiteren La Bohème-Variation unter Luxusbedingungen. Mit eigenem Koch und einem wundersamen, Cocktails produzierenden Klavier. Ein dunkel furnierter Raum mit üppigem Oberlicht und (projizierten) Fenstern weitet sich von Zeit zu Zeit nach hinten in eine Art Nobelwartesaal. Diese surreal durchschossene Lebenskünstler-Wirklichkeit kippt unversehens ins Lebenstragische, als der sanften, wie ein Duke-Ellington-Foxtrott benannten Chloé (Rebecca von Lipinski) eine Seerose in der Lunge wächst, die man offenbar nur durch andere Blumen bekämpfen kann. Ed Lyon führt diesen Kampf und füllt diese zentrale Partie ihres gerade geheirateten Mannes Colin mit smartem Charme und Fähigkeit zum Leiden, darstellerisch und stimmlich imponierend aus. Bald muss er, um Geld zu verdienen, den absurden Job annehmen, mit seiner Körperwärme das Wachstum von Waffen zu befördern. Was aber in dieser Welt auch nicht mehr verwundert. Gehört doch zu seinem Haushalt eine sprechende Maus. Die begeht am Ende Selbstmord, indem sie ihren Kopf freiwillig in ein Katzenmaul steckt, weil sie nicht mit ansehen kann, wie Colin am nicht zu verhindernden Tod von Chloé leidet. Surreale Traumhochzeit
Colins Freund Chick (Daniel Kluge) wird seine obsessive Vorliebe für PatreBücher zum Verhängnis. Erst vernachlässigt er dafür seine Freundin Alise (auch mit vokalem Esprit: Sophie Marilley), dann wird er von einer Schutztruppe, die nur wegen einer Steuerprüfung bei ihm eindringt, totgeprügelt. Als seine Freundin Alise dann in einem Rachfeldzug alle Buchläden abfackelt, geht sie dabei selbst mit in Flammen auf. Am Ende überlebt nur Colin, wobei das bei seinem Zustand stark übertrieben ist. Nicht nur die Bücher gehen in Flammen auf
Die emotionale Tonlage, der sich souverän und ohne dogmatische Einschränkung zwischen Kammermusik und Musicalsound, Chanson und Jazz, leichfüßigem Parlandoton und düsterem Orchesterraunen bewegt, ist da längst auf einer atemberaubenden Achterbahn auf den Abgrund zugefahren. Hat dabei Kirchengesänge aufgeboten, während ein Jesus seine Hände in Unschuld wäscht und seine Wundmale doch nicht wegbekommt. Das Orchester hat mit wuchtigen Tutti-Schlägen an die Pforten der Hölle gedonnert und dann doch wieder zarte, poetische Trauertöne angeschlagen. Denisvos Musik ist ein geradezu exemplarisches Beispiel dafür, wie ein Schostakowtisch-Erbe eigene Wege eingeschlagen hat. Auch in Richtung der westlichen Moderne. Deren Dogmen sie sich ebenso souverän verweigert, wie den kulturpolitischen Forderungen in seiner Heimat. In der Stuttgarter Oper ist so ein ambitioniertes Ausgrabungsunternehmen natürlich Chefsache. Jossi Wieler und Sergio Morabito haben zusammen mit Jens Kilian (Bühne), Anja Rabes (Kostüme) und Chris Kondek (Video) mit bewährtem ästhetischem Scharfsinn und präziser Personenführung inszeniert. Bei ihnen bricht die Oberfläche einer nachvollziehbar realistischen Welt immer wieder auf und offenbart den nur eine Handbreit dahinter liegenden Wahnsinn, das Absurde, das Abgründige, das sich am Ende durchsetzt. Trauer grenzenlos
Am Pult des Staatsorchesters stand der neue GMD Sylvain Cambreling. Mit spürbarer Hingabe belegte er seinen Ruf, ein Spezialist für die Moderne zu sein. Wobei er der Inszenierung folgt, die weniger auf das grell Bunte der Geschichte setzt, sondern auf die Wirkung der dunklen Seiten, in denen Wagners Tristan-Musik, Debussys Pellèas-Düsternis herüber leuchten und Kafka den Fremdenführer durch die Alptraumwelten gibt. Zum Glück haben weder Wieler noch Cambreling dieses Werk wie einen exotischen Schmetterling aufgespießt oder zu einer schrillen Revue gemacht, sondern ernst genommen und fliegen lassen. Und wir sehen und hören stauend zu. Begeisterter Jubel in Stuttgart.
Das Opernhaus Stuttgart hat sich mit dieser Ausgrabung wiederum als das derzeit interessante deutsche Opernhaus erwiesen. Ihre Meinung ? Schreiben Sie uns einen Leserbrief |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung und Dramaturgie
Bühne und Kostüme
Kostüme
Licht
Video
Choreographische Mitarbeit
Chor
Dramaturgie
Solisten
Colin
Die Maus
Nikolas, Colins Koch
Chick, Freund von Colin
Alise, Chicks Freundin
Isis, Freundin von Chloé
Der Priester
Chloé
Coriolan
Und Pégase, Ehrenschwule
Das Schuppentier
Doktor Mangemanche
Der Apotheker
Der Direktor der Waffenfabrik
Der Seneschall
Jesus
Das Mädchen
Die Katze
Reinigungsknappen/ Schutzmannen
|
- Fine -