Klein, aber sehr lebendig

Die kleinste Oper der Welt, möchte man fast sagen. Vielleicht wird das Theater Biel-Solothurn gerade deshalb so geliebt von seinem Publikum. Bei Verdis «Rigoletto» war es wieder zu erleben.

Peter Hagmann
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Tochter vor dem Ausfliegen: Rigoletto (Michele Govi) und Gilda (Rosa Elvira Sierra) in Biel. (Bild: pd)

Tochter vor dem Ausfliegen: Rigoletto (Michele Govi) und Gilda (Rosa Elvira Sierra) in Biel. (Bild: pd)

Bieu, sagen sie in ihrer Mundart; das l wird dort zum u. Jedenfalls gilt das für die eine Hälfte, die Deutschsprachigen, die anderen sprechen Französisch, und nicht selten gehen in der Konversation die beiden Sprachen munter durcheinander. Strahlt schon dies Gelassenheit und Toleranz aus, so gilt das erst recht für den Markt auf dem Burgplatz, im Herzen der Bieler Altstadt, der eine eigene Art Authentizität ausstrahlt. Hier steht auch das Stadttheater Biel, das von aussen keineswegs als solches erkennbar ist.

Identifiziert

Die Fassade, die sich da prächtig aufschwingt, verdeckt mehr, als sie zu erkennen gibt. Alles ist hier klein, «opéra-miniature» sozusagen: der Zuschauerraum mit seinen stolzen 280 Plätzen, der Orchestergraben, der für Kammerbesetzungen ausgelegt ist, das Budget, das mit 15 Millionen Franken im Jahr etwas mehr als zehn Prozent dessen umfasst, was das Opernhaus Zürich für denselben Zeitraum zur Verfügung hat. Der Spielraum ist eng, dennoch leistet sich Biel, mit rund 50 000 Einwohnern halb so gross wie Winterthur, dieses eigenständige, selbst produzierende Haus mit seinen beiden Sparten Schauspiel und Musiktheater. Und das zusammen mit Solothurn, der nochmals wesentlich kleineren Partnerstadt, die zudem jenseits einer Kantonsgrenze liegt.

Solche Strukturen, wird bisweilen geunkt, seien längerfristig nicht zu erhalten. Indessen machen gerade diese kleineren Häuser die kulturelle Vielfalt der Schweiz aus; zudem stehen sie für den friedlichen Föderalismus der Kräfte in diesem Land. Gewiss berührt das Theater Biel-Solothurn hier wie dort Schmerzgrenzen: bei den Politikern, die sich um ihre Kasse sorgen, wie bei den Künstlern, die sich nicht eben von Honigtöpfen umgeben sehen. Darum ist jetzt eine Strukturreform umgesetzt worden, die, ähnlich wie in Bern, das Theater und das Orchester unter dem gemeinsamen Dach der Stiftung Tobs, will sagen: Theater und Orchester Biel-Solothurn, zusammengeführt hat. Dies mit dem Ziel einer effizienteren Nutzung der Mittel.

Was die Lebenskraft der Tobs und insbesondere der Oper Biel betrifft, genügt der Besuch einer Vorstellung, um einen Begriff davon zu bekommen, in welchem Ausmass das Publikum mit der Institution verbunden ist – auch das eine Form von Authentizität. Ähnliches ist zu erleben bei den (ganz unterschiedlich aufgestellten) Sinfonieorchestern von Bern, Luzern, Winterthur oder St. Gallen. Manche dieser Institutionen sehen sich durch Volksabstimmungen gestärkt, und bei allen ist es eine Leitfigur, welche die Identifikation auslöst. In Biel ist das der aus Deutschland in die Schweiz zurückgerufene Regisseur und Theaterleiter Beat Wyrsch, der soeben zum «Bieler des Jahres» ausgerufen worden ist.

Was Wyrsch in den sechs Jahren seiner Intendanz geleistet hat, darf sich sehenlassen. Geschickt hat er die Weite des Repertoires, die Enge der Verhältnisse und die Erwartungshaltung seines Publikums miteinander in Verbindung gebracht. Da gab und gibt es Raritäten wie die «Antigona» (1773) des unermüdlichen Böhmen Joseph Mysliveček, die von Arte aufgezeichnet worden ist, oder «La Cecchina» (1760) des noch wesentlich fleissigeren Italieners Niccolò Piccinni. Auch die Ränder hat Wyrsch mutig erkundet, diese Spielzeit etwa mit einer Produktion von Tschaikowskys «Eugen Onegin». Für seinen Abschied als Regisseur, der freilich nicht im Stadttheater, sondern im Kino Palace stattfindet, hat er sich nun Verdis «Rigoletto» ausgesucht. Ein wunderbares, oft gespieltes, aber selten interpretiertes Stück.

Gewiss, Beat Wyrsch ist nicht Tatjana Gürbaca. Weder schält er, wie es die Konwitschny-Schülerin in Zürich getan hat, einzelne Stränge der Deutung heraus, etwa den Machismo der Herrengesellschaft um den Herzog von Mantua und die in diesem Licht krass heraustretende Larmoyanz Rigolettos, noch zielt er auf eine direkt mit der Gegenwart verbundene Bildersprache. Wyrschs Zugang zu «Rigoletto» ist konventioneller. Bei ihm trägt der Narr nicht gerade die entsprechende Kappe, aber doch den berühmten Buckel. Und wenn Rigoletto am Ende auf die Tochter stösst, die auf seine Anweisung hin von Sparafucile umgebracht worden ist, bricht er in jenes Schluchzen aus, das hier sozusagen obligat ist.

Kammermusikalisch

Allein, ganz so einfach ist es nicht. Das Handlungsgerüst lässt Wyrsch als Theater im Theater zeigen: auf einer Minibühne mit rotem Vorhang, die ihm der Ausstatter Martin Warth gebaut hat. Das bricht das Geschehen, wie es die klare Zeichnung tut, mit der die Beziehung zwischen Rigoletto und Gilda als ein scharfer, ganz und gar heutiger Konflikt zwischen Vater und wegstrebender Tochter dargestellt wird. Das Ensemble, eine verschworene Familie, trägt das grossartig mit. Michele Govi ist ein Rigoletto von packender Ausstrahlung, während Rosa Elvira Sierra als Gilda ein apartes Timbre einbringt und Yongfan Chen-Hauser mit seiner sonoren Tiefe als ein geborener Sparafucile erscheint. Kleinere Partien werden aus dem Opernstudio der Hochschule der Künste Bern besetzt, während der von Valentin Vassilev betreute Chor von Freiwilligen aus der Region gestellt wird – und eine sehr ordentliche Figur macht.

Besonders interessant: Ricardo Mirabelli. Er arbeitet mit einem leichten, obertonreichen Tenor, der die Partie des Herzogs in eine lyrische Helligkeit taucht, der aber ausgezeichnet zu dem kammermusikalischen Ton der Produktion passt. Der räumlichen Verhältnisse wegen kann das Bieler Sinfonie-Orchester nämlich bloss mit dem Allernötigsten auftreten. Zum Beispiel gibt es hier weitaus weniger Streicher als normal, während die Bläser in gewohnter Stärke mitwirken. Das führt zu einem merklich aufgerauten Klang, der weit entfernt ist von sinfonischer Wohlanständigkeit, der vielmehr aktiv, mit Farbe und Kontrapunkt ins Geschehen eingreift – spannend ist das. Zumal mit Franco Trinca ein Dirigent am Pult steht, der die italienische Tradition aus dem Effeff kennt, der den Sängern als ein echter Maestro concertatore zur Seite steht, aber auch für gut getroffene Tempi und spritzige Rhythmen sorgt. Klein ist sie fürwahr, die Bieler Oper, aber in ihrer Weise sehr fein.