Aus dem Serail in das Serail

Türkenexotik ist bei den Regisseuren nicht beliebt, wenn sie Mozarts Singspiel «Die Entführung aus dem Serail» inszenieren. Lydia Steier referiert in ihrer Interpretation am Stadttheater Bern nicht auf die Türkei oder auf eine fremde Kultur, sondern sie lokalisiert das Serail im Innern der Figur der Konstanze.

Michelle Ziegler
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Auf ihrer Reise ins Innere tun sich Konstanze (Robin Johannsen) Traumwelten auf. (Bild: Anette Boutellier)

Auf ihrer Reise ins Innere tun sich Konstanze (Robin Johannsen) Traumwelten auf. (Bild: Anette Boutellier)

Pailletten, Pluderhosen, lange gebogene Säbel, Turbane: Sie sind bei Regisseuren unserer Zeit nicht en vogue, wenn es darum geht, Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel «Die Entführung aus dem Serail» zu inszenieren. Das Türkische entfaltet als Fremdes oder Exotisches nicht mehr jene Wirkung, die den Erfolg der Oper zu Lebzeiten Mozarts mitbedingte. Nur hundert Jahre lag damals die Belagerung Wiens durch die Türken zurück.

Und heute? Worin liegt das bedrohliche Fremde und Exotische heute? Lydia Steier bezieht sich in ihrer Interpretation der Türkenoper am Stadttheater Bern nicht auf die Türkei oder auf eine fremde Kultur, sondern sie lokalisiert das Serail im Innern der Figur der Konstanze. Als Frau von heute sieht sich Konstanze in Steiers Auslegung mit dem gesellschaftlichen Druck zur Anpassung konfrontiert, ihr Gefängnis ist die bürgerliche Heirat mit ihren Folgen. Der kulturelle Zusammenprall, die ihm eingeschriebenen Fremdperspektiven und die zaudernde Neugier für das Exotische sind damit aus dem Blickfeld genommen, denn Steier konzentriert sich ausschliesslich auf den inneren Konflikt Konstanzes.

Ins Innere

Die Kirchenszene zu Beginn des Abends befolgt alle ungeschriebenen Regeln des Hochzeitfeierns (Kostüme: Siegried Zoller, Bühne: Susanne Gschwender). Sie wird mit dem Choral «Herr, vor dein Antlitz treten zwei» musikalisch karikiert: Die Individuen der versammelten Hochzeitsgesellschaft halten sich nur approximativ an Tempo und Tonhöhen, wagemutige Sänger tun sich mit extravaganten Einlagen hervor. In diesem Moment wird es Konstanze zu viel, sie bricht aus diesem vorgezeichneten Rahmen aus und folgt einer schwarz gekleideten Dame, die in Steiers Inszenierung die Sprechrolle des Bassa Selim ersetzt. Die Dame als Alter Ego führt Konstanze in eine Traumwelt, in der sich merkwürdige Gestalten aus der Welt des Märchens und des Jahrmarkts aufhalten.

Die Reise, die Konstanze antritt, ist eine Reise in ihr Inneres, in der sie zu sich selbst – nämlich zum Kind in sich, zum «reinen Urkern» – findet. In dieser Selbsterfahrung nach Freud bleiben Konstanze auch die unfeinen Züge ihrer Mitmenschen nicht verborgen: Belmonte ist vielmehr in das Bild der perfekten Braut vernarrt als in die eigentliche Braut, Blondchen freut sich voller Häme über die Schicksalsschläge, die Konstanze treffen, und Osmin ist ein Transvestit, der sich in Blondchen als liebevolle Angebetete die Falsche ausgesucht hat.

Aus dem Innern

Die Auslegung Steiers und ihr szenisches Vokabular führen in den ersten beiden Akten der neuen Inszenierung zu eindringlichen Bildern. Über die Länge des Abends verliert ihre Lesart indes an Sinn, und die versuchten psychologischen Folgerungen wirken eindimensional und platt. Mit ihren undefinierten Begehren steht Konstanze einer verzogenen Göre näher als einer von Konflikten verzehrten mündigen Frau. Und wenn sie sich mit sich selbst versöhnt, indem ihr Alter Ego Konstanzes kindliches Ebenbild aus einem Vogelkäfig entlässt, vermag auch das hier wiederholte Andante aus der Ouvertüre nicht über die plakative Aussage hinwegzuhelfen. Das Publikum brachte seinen Unmut über Steiers Auslegung im Schlussapplaus denn auch ungewohnt deutlich zur Geltung.

Es bleibt die Musik und ihre ungemein feinfühlige Auslegung durch den Dirigenten Kevin John Edusei. Er führte das Berner Symphonieorchester an der Premiere geradlinig und mit trockener Tongebung durch die Ouvertüre, um sich einen Spielraum für die fein gesetzten Akzente und Farben zu schaffen, mit denen er in der Folge zentrale Momente des Geschehens hervorhob. Genug Raum zur Entfaltung liess er der Amerikanerin Robin Johannsen, die als Konstanze im Verlauf der Aufführung an Wärme und Klarheit gewann und ihrer Rolle stimmlich Charakter verlieh. Uwe Stickert trat als etwas rechtschaffener Belmonte im Geschehen etwas zurück, während die egomane Blonde Yun-Jeong Lee auf den Leib geschnitten ist. In bester Laune und Verfassung war Pavel Shmulevich, der die Allüren seines Osmin mit Witz und Charme auskostete.