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Herrliche Barockklänge in kühlem Ambiente
Von Thomas Molke /
Fotos von N. Klinger
Lange Zeit teilte Antonio Vivaldi wie viele seiner Zeitgenossen das Schicksal,
in Vergessenheit geraten zu sein. Dann führte ein spektakulärer Fund in den 20er
Jahren des letzten Jahrhunderts auf dem Dachboden eines Klosters und in einer
chaotischen Turiner Privatbibliothek dazu, dass der in Venedig geborene
Komponist eine Art Renaissance erlebte. Von den wiederentdeckten Opernpartituren
war L'Olimpiade das erste Werk, das 1939 in Venedig zur erneuten Aufführung
gelangte. Fast ein halbes Jahrhundert verging, bis die ersten Einspielungen dieser
Oper auf CD erfolgten, und erst 2007 kam es beim Festival Winter in
Schwetzingen, das sich über mehrere Jahre Vivaldis Kompositionen widmete,
zur deutschen Erstaufführung. Das Staatstheater Kassel ist nun im Rahmen seiner
Barock-Pflege die zweite deutsche Bühne, die Vivaldis Dramma per musica zur
Aufführung bringt.
Clistene (Marc-Olivier Oetterli, vorne Mitte)
verkündet seiner Tochter Aristea (Ulrike Schneider, oben links), wer bei den
Olympischen Spielen für sie kämpfen wird (unten rechts vorne: Alcandro (Tomasz
Wija), oben rechts hinten: Argene (Belinda Williams), in den anderen Türen:
Statisterie).
Die Handlung ist, wie in Barock-Opern meistens, reichlich verworren und weist in
der Grundstruktur Parallelen zum Ödipus-Mythos auf. Filinto wächst am Königshof
in Kreta unter dem Namen Licida auf, weil sein Vater Clistene, der König von
Elis, aufgrund einer Prophezeiung, die besagte, dass der Sohn später die Hand
zum Mord gegen den Vater erheben würde, befohlen hatte, seinen Sohn als Baby zu
ertränken, was sein Vertrauter Alcandro aber nicht übers Herz brachte, sondern
das Kleinkind Aminta übergab, der den Jungen an den Königshof nach Kreta
brachte, wo gerade der Sohn des Königs gestorben war. Als mittlerweile
erwachsener junger Mann will Licida nun an den Olympischen Spielen teilnehmen,
weil Clistene als Preis für den Sieger die Hand seiner Tochter Aristea
ausgesetzt hat, in die sich Licida mittlerweile verliebt hat. Da er jedoch
körperlich nicht in Form ist, bittet er seinen Freund Megacle für ihn anzutreten
und die Königstochter zu gewinnen. Obwohl Megacle selbst in Aristea verliebt ist,
lässt er sich auf diesen Betrug ein und gewinnt die Spiele. Aristea ist
fassungslos, dass Megacle, den sie ebenfalls liebt, für Licida gewonnen hat,
da dieser doch ursprünglich ihrer Freundin Argene, die sich als Schäferin Licori
in Olympia versteckt, den Hof gemacht hat. Der Schwindel fliegt auf, und Megacle
beschließt, sich das Leben zu nehmen. Licida will daraufhin Rache an Clistene
für den Tod des Freundes nehmen, wird allerdings verhaftet und zum Tode
verurteilt. Als Argene mit einem Amulett, das sie einst von Licida als
Eheversprechen erhalten hat, einfordert, für den Geliebten zu sterben, erkennt
Clistene in Licida seinen Sohn Filinto, will allerdings trotzdem an der
Verurteilung festhalten und anschließend selbst aus dem Leben scheiden. Doch
Megacle, der von Fischern vor dem Freitod gerettet worden ist, schreitet ein,
und teilt Clistene mit, dass er nicht länger den Vorsitz in Olympia habe, da die
Olympischen Spiele nun beendet seien, und nur das Volk Licida verurteilen
könne. Das Volk begnadigt Licida, und so steht einer Doppelhochzeit (Licida -
Argene und Megacle - Aristea) nichts mehr im Weg.
Gibt es noch Hoffnung für ihre Liebe: Megacle
(Maren Engelhardt) und Aristea (Ulrike Schneider)?
Das Regie-Team um Dominique Mentha verzichtet, im Gegensatz zu Werner Pichlers
Inszenierung beim Winter in Schwetzingen, ganz auf einen Bezug zu
Olympischen Spielen und präsentiert die Handlung recht abstrakt auf einer
relativ eingeschränkten Bühne in zwei Ebenen. Kurz hinter dem Orchestergraben,
der während der dreisätzigen Sinfonia zu Beginn der Oper noch wie bei einem
Konzert hochgefahren ist, schließt Justyna Jaszczuk das Bühnenbild mit einer
hohen weißen Wand ab, die im unteren Teil aus rechteckigen Elementen besteht,
die wie Tore geöffnet werden können und in denen die einzelnen Figuren wie
Ausstellungsstücke in einem Setzkasten präsentiert, allerdings auch isoliert
werden können, und im oberen Teil eine weitere Spielfläche freigibt, wenn die
Wand in den Schnürboden gezogen wird. Während des ersten Aktes sieht man oben
hochragende Baumstämme, die einen Hauch von Natur in dem ansonsten sehr kühl
gehaltenen Ambiente verbreiten, was vielleicht für die Welt Argenes stehen
könnte, die im ersten Akt noch ihr Inkognito als vermeintliche Schäferin Licori
wahrt. Im zweiten Akt scheinen diese Bäume gefällt worden zu sein. Auf beiden
Ebenen sieht man jetzt nur noch tote Äste. Im dritten Akt ist dann die
Zweiteilung der Bühne aufgehoben. Wenn Licida zur Hinrichtung schreitet, scheint
er sich einem Scheiterhaufen im Hintergrund zu nähern, aus dem leuchtende
Nebelschwaden aufsteigen.
Aminta (LinLin Fan, umgeben von Mitgliedern des
Staatsorchesters Kassel) wundert sich über den Wahnsinn der Liebe.
Mentha assoziiert in seiner Inszenierung die Figuren der Oper mit einem anonymen
Ölgemälde, das zwar einen namentlich nicht genannten Violinisten darstellt, der
allerdings in der Regel als Vivaldi identifiziert wird. Wenn die Oper beginnt,
sitzen die Protagonisten jeweils mit einer Maske dieses Bildes in einem
schwarzen Umhang auf weißen Schemeln vor der weißen Wand und schlüpfen erst am
Ende der Sinfonia quasi in ihre Rollen, indem sie die Maske und den Umhang
ablegen. Dieses Bild wird am Ende der Inszenierung wieder aufgegriffen, wenn das
Volk über die mögliche Begnadigung Licidas entscheiden soll. Dann wird im
Hintergrund der Bühne ein weißer Kasten sichtbar, in dem die weißen Schemel mit
den abgelegten Umhängen und Masken in einer Reihe aufgestellt sind, auf denen
die Protagonisten, nachdem sie den Umhang umgelegt und die Maske aufgesetzt
haben, Platz nehmen. Zum Schlusschor des Volkes wird dieser Kasten langsam nach
vorne gefahren, so dass Anfang und Schlussbild quasi einen Rahmen um die
Geschichte bilden, was man als
Erzählung aus Sicht des Komponisten deuten könnte. Einige
Regie-Einfälle bleiben jedoch unklar. So erschließt sich beispielsweise nicht, wieso zur
Ehrung des Siegers die Figuren alle mit einer Tasse Tee hinter den einzelnen
Toren stehen. Ansonsten verzichtet Mentha jedoch größtenteils auf unnötige Mätzchen und
erzählt die Geschichte stringent und nachvollziehbar, auch wenn man der
Inszenierung eine gewisse Statik - beabsichtigt oder unbeabsichtigt - nicht
absprechen kann.
Argene (Belinda Williams) will sich für den
Geliebten Licida (Christiane Bassek) opfern (in der Mitte: Clistene
(Marc-Olivier Oetterli), rechts: Alcandro (Tomasz Wija)).
Dass die Aufführung fast eine halbe Stunde länger als im Programmheft abgedruckt
dauert, ist wohl vor allem Vivaldis Musik zuzuschreiben, die das Publikum so
begeistert, dass es nach jeder Arie Szenen-Applaus gibt. Bei diesen wunderbaren
Melodienbögen ist es beinahe schon eine Schande, dass dieses Barock-Juwel nicht
häufiger auf den Bühnen zu erleben ist. Jede Figur kann hier mindestens eine
Glanzarie präsentieren, die die Sängerdarsteller auf hohem Niveau umsetzen. Den
größten Applaus ernten Ensemble-Mitglied LinLin Fan und Belinda Williams als
Mitglied des Opernstudios. Fan schießt in der relativ kleinen Partie von Licidas
Vertrautem Aminta ein regelrechtes Koloratur-Feuerwerk ab, das seinen Höhepunkt
in der Arie im zweiten Akt erfährt, wenn Aminta die Liebe als den größten
Wahnsinn bezeichnet. Zu dieser Arie wird der Orchestergraben hochgefahren,
so dass Fan während ihres Gesangs quasi in Dialog mit den Musikern tritt. Williams begeistert als
verschmähte Argene mit wunderschönem Mezzo, der vor allem durch seine Frische
und Jugend besticht. Maren Engelhardt ist als Megacle leider stimmlich indisponiert,
so dass Franziska Gottwald die Arien von der Seite einsingt und Engelhardt nur die Szene und die Rezitative übernimmt.
Aber auch darüber lässt sich leicht hinwegsehen bzw. -hören, da einerseits
Engelhardt die Leiden des jungen Mannes mit glaubhafter Leidenschaft darstellt
und in den Rezitativen mit einer sauberen Stimmführung überzeugt und
andererseits Franziska Gottwald die Arien, mit deren Einstudierung sie erst vier
Tage vor der Premiere beginnen konnte, bravourös meistert.
Ulrike Schneider gefällt als leidende Aristea mit dunkel timbriertem Mezzo, und
auch Christiane Bassek, Marc-Olivier Oetterli und Tomasz Wija überzeugen
stimmlich und darstellerisch als Licida, Clistene und Alcandro. Jörg Halubek
beweist nach Scarlattis Griselda in der vergangenen Spielzeit erneut,
dass er ein Fachmann für Alte Musik ist, und verwandelt das Staatsorchester
Kassel in einen barocken Klangkörper. So gibt es am Ende lang
anhaltenden und verdienten Applaus für alle Beteiligten. Vivaldis Opern haben einen gewissen Suchtfaktor, dem man sich nur schwerlich entziehen kann. Wenn man also nicht auf eine CD-Aufnahme dieses großartigen Werkes zurückgreifen will, sollte man sich diese Inszenierung in Kassel nicht entgehen lassen. (Weitere Termine: 13., 20. und 23. März 2013, 4. April 2013 und 2. Mai 2013 jeweils um 19.30 Uhr und 21. April 2013 um 18.00 Uhr) Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
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