Versuch über den Punkt Null

Zum Wagner-Jahr 2013 wendet sich das Genfer Grand Théâtre dem «Ring des Nibelungen» zu. Der Dirigent Ingo Metzmacher und der Regisseur Dieter Dorn suchen einen neuen Weg – und bringen einige Überraschungen hervor.

Peter Hagmann
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Loge (Corby Welch, ganz links) ist im Genfer «Rheingold» kein Verführer, er sieht einfach durch und klärt auf. (Bild: GTG / Carole Parodi)

Loge (Corby Welch, ganz links) ist im Genfer «Rheingold» kein Verführer, er sieht einfach durch und klärt auf. (Bild: GTG / Carole Parodi)

Schön wär's. Aber ist es möglich? Schön wäre wirklich, man könnte zurück: zu den Quellen, zu den Anfängen, wohin auch immer. Jedenfalls weg von der enorm verzweigten, beschwerenden Rezeptionsgeschichte, die sich um Wagners «Ring des Nibelungen» gelegt hat. Künstler glauben an diese Möglichkeit. Der Dirigent sieht sie dann erfüllt, wenn er sich eine neue Ausgabe der Partitur kauft und den jungfräulichen, noch von keinerlei Eintragungen versehrten Notentext vor sich hat. Der Regisseur wiederum glaubt ihn dann zu erreichen, wenn er vom Nachtschwarz der völlig leeren, nackten Bühne ausgeht. So haben es sich Dieter Dorn und sein Ausstatter Jürgen Rose für die neue Produktion von Wagners «Ring» am Genfer Grand Théâtre zurechtgelegt – beide übrigens Nachfolger von Christof Loy, der sich noch in den Vorgesprächen mit dem Genfer Opernintendanten Tobias Richter aus dem Projekt zurückgezogen hat.

Kammermusik, Sprechgesang

Allein, es geht nicht auf. Der Versuch, die neueren Klischees zu umgehen – natürlich wird da auf Wotan mit dem Aktenkoffer verwiesen –, dieser Versuch führt nur zum Aufwärmen der älteren. Im «Rheingold», das vom Genfer Publikum mit viel Beifall aufgenommen worden ist, wird es nur zu deutlich. Zu Beginn kracht unvermutet ein Etwas aus dem Schnürboden auf die Bühne, und gleich danach, nämlich leider zum Vorspiel, wird jener bekannte Felsen hereingezurrt, auf dem Alberich und die Rheintöchter herumturnen – nur ist dieser Felsen hier aus allereinfachsten, wenn auch innen mit Spiegeln versehenen Kartonschachteln gefertigt. Wenn in der zweiten Szene Fricka das Wort ergreift, trägt sie die Peitsche einer Domina in der Hand; das kann ja lustig werden. Für den Besuch der Herren Wotan und Loge im Keller von Nibelheim wird wie üblich die Untermaschinerie nach oben gefahren, und gern sieht man dann wieder einmal einen richtig herrlichen, bühnenbreiten Plüschlindwurm seinen Plüschrachen aufreissen (spektakulär gelöst ist hier allerdings das Verschwinden Alberichs unter seinem Tarnhelm). Alles schon mal da gewesen – so ist es nun einmal bei Wagners «Ring».

Dennoch ist es in Genf keineswegs so wie jederzeit und überall. Denn auch der Dirigent Ingo Metzmacher versucht, auf einen Punkt Null zurückzugehen – das heisst hier: abzukommen vom Kraftstil, wie er sich als wesentliche Schiene der Wagner-Interpretation bis heute behauptet. Er schliesst sich einer neueren Wagner-Sicht an und setzt auf einen leichten, kammermusikalischen Ton, flinke Zeitmasse und geschmeidige Artikulation. Das mindert Pathos und Pomp, schafft dafür dem Zuhörer manch erhellendes Erlebnis, lässt etwa die harmonische Offenheit des Tarnhelm-Motivs klar erkennen. Der an sich interessante Ansatz ist freilich mit dem Nachteil verbunden, dass das Orchestre de la Suisse Romande – es kann übrigens durchaus noch an Präzision gewinnen – in der Akustik des Grand Théâtre zu wenig Gewicht erhält, weshalb die Singstimmen über Gebühr in den Vordergrund geraten. Was von Wagner als Musiktheater gedacht war, als aktives Miteinander von Vokalem und Instrumentalem, wird so wieder zum normalen Untereinander von Singstimme als der Hauptsache und der orchestralen Begleitung, mithin zur Oper.

Wer sich damit abgefunden hat, kann nun allerdings seine Wunder erleben: Theaterwunder. Nicht nur brauchen die Sänger keinen Augenblick zu forcieren, verfügen sie vielmehr über das volle Spektrum ihrer gestalterischen Möglichkeiten, es ist auch, zumal offenbar sehr an der Diktion gearbeitet worden ist, so gut wie jedes Wort zu verstehen. Eine Art Sprechgesang entsteht da, ein Sprechen mit musikalischen Mitteln, wie es sich Wagner, davon zeugen die Berichte aus den Proben zur Bayreuther Uraufführung der Tetralogie 1876, vorgestellt hat. Und mit einem Mal empfindet man die Stabreime, die bei der Lektüre des Textes so sehr an die Lachmuskeln gehen, als vielleicht eigenartiges, aus dem musikalischen Kontext heraus jedoch plausibles Stilmittel. Damit ist die Türe geöffnet für den Schauspielregisseur, der Dieter Dorn ja doch zuallererst ist. Ganz unprätentiös, ohne jeden interpretatorischen Überdruck wird der Mythos ausgebreitet, den die Tetralogie verhandelt, wird die Geschichte als Geschichte erzählt. Und da das Grand Théâtre auf eine überzeugende, etwas abseits des Mainstreams liegende Besetzung baut, gelingt das in erstaunlichem Mass.

Einmal anders

Nicht nur überzeugend, auch in mancher Hinsicht speziell ist die Besetzung. Ungewöhnlich mächtig die Stimme von John Lundgren, der als Alberich mit seinem Fluch das Geschehen in Gang bringt. Bald wird aber klar, dass die Verstrickung von Wotan selber ausgeht, von seinem grenzenlosen Streben nach Machterhaltung – Tom Fox zeigt das mit kernigem Bariton, nur könnte er sein amerikanisierendes Deutsch noch etwas aufpolieren. Die Gattin an seiner Seite, die lauernde und katzenartig agile Fricka, beherrscht das Idiom nämlich perfekt, obwohl sie ihre Jugend in St. Petersburg verbracht hat; vor allem aber besticht Elena Zhidkova durch blitzenden Ausdruck im Vokalen wie im Darstellerischen. Aufhorchen lassen Fasolt und Fafner; Alfred Reiter und Steven Humes sind nur diskret ausgestopft und klingen ausnehmend weich. Hell die Erda von Maria Radner – während der Loge des Amerikaners Corby Welch die Überraschung selbst ist. Kein scharf zeichnendes Timbre ist da zu hören, vielmehr ein empfindsam lyrisches, rundes, was die Figur nicht als Ausbund der Verschlagenheit, vielmehr als intellektuell auf der Höhe stehenden Menschen erscheinen lässt. Schlechterdings perfekt die Diktion, sensationell die Körpersprache. Der Darsteller bleibt auch die Ruhe selbst, als der kleine Feuerzauber, den er am Ende entfacht, auf seine Haarpracht übergreift und dort von einem eilends dazugetretenen Assistenten mit einer Sprühflasche gelöscht werden muss.