Des Todes düstere Nacht

Am gleichen Tag wie in Salzburg sind auch in Baden-Baden Osterfestspiele eröffnet worden. Sie werden von den Berliner Philharmonikern bestritten, die Salzburg den Rücken gekehrt haben.

Lotte Thaler
Drucken

Wenn in Mozarts «Zauberflöte» die «Eingeweihten» als «Eingeweide» erklingen, wird man hellhörig. Stimmt hier etwas nicht? In Simon Rattles «Zauberflöte», die er zur Eröffnung der neuen Osterfestspiele in Baden-Baden aufführte, stimmt manches noch nicht. Eine «Heidenangst» habe er vor dem Stück, bekannte er jüngst in einem Zeitungsinterview. Die «Zauberflöte» sei auch nicht seine erste Wahl gewesen, aber der kurze Vorlauf nach der Entscheidung der Berliner Philharmoniker, von Salzburg nach Baden-Baden zu gehen, habe für diese Oper gesprochen. So viele Vorsichtsmassnahmen im Vorfeld sind bei einem Mozart-erfahrenen Dirigenten wie Simon Rattle erstaunlich. Wollte er damit andeuten, dass ihm die «Zauberflöte» fremd geblieben ist, dass er an ihr – wie so viele Dirigenten vor ihm – scheitern werde?

Leerstellen

Nach der Premiere jedenfalls war klar: Die «Zauberflöte» ist nicht Sir Simons Stück. Das wäre auch nicht weiter tragisch, wäre die Produktion nicht zum teuren Medienereignis bestimmt, das sogar in die Kinos kommen soll. Hehr, aber blutleer, zurückhaltend bis an die Grenze zur Langeweile, die Musiker – auch sie spielen die «Zauberflöte» zum ersten Mal – eher unterfordernd als herausfordernd. Dazu oft merkwürdige Temposchwankungen, Verzögerungen und eine mitunter auffallend nachlässige Koordination zwischen Orchestergraben und Bühne. Viermal wird die «Zauberflöte» während der Osterfestspiele aufgeführt, da sind noch alle Steigerungsmöglichkeiten offen, um die Fallhöhen zwischen Erhabenem und Burleskem, zwischen Idealismus und Märchenton, Mordgelüsten und Friedensutopien zu ergründen.

Mit seinem heterogen zusammengewürfelten Sängerensemble hätte Rattle in Salzburg wahrscheinlich keinen Staat gemacht – in Baden-Baden gelingt das schon. Das ungemein begeisterungswillige Publikum nimmt die Berliner Philharmoniker gleichsam in gastliche Arme, freut sich an der neuen Prominenz und hört über die suboptimale Rollenbesetzung gern hinweg. Pech war der Ausfall von Simone Kermes als Königin der Nacht, denn ihre Einspringerin Ana Durlovski ist dieser Partie zurzeit weder stimmlich noch musikalisch gewachsen. Wirklich gut besetzt waren drei Rollen: Papageno mit Michael Nagy, Papagena mit Regula Mühlemann und Sarastro mit dem jungen, attraktiven und perfekt Deutsch sprechenden russischen Bass Dimitry Ivashchenko.

Eine Leerstelle blieb auch die Regie. Robert Carsen verwandelte die «Zauberflöte» aus der Perspektive der Königin der Nacht in ein etwas todessüchtiges Nachtstück der düsteren Art. Die drei Damen – ein gänzlich inhomogenes Terzett von Annick Massis, Magdalena Kožená und Nathalie Stutzmann – sind schwarze, verschleierte Witwen, und auch die Welt Sarastros besteht aus Totengräbern, die mit derben Schaufeln die unterirdischen Prüfungskammern ausheben. Von den «Strahlen der Sonne» wird hier niemand gewärmt. Papagena ist ein Grufti und steigt aus einem Sarg, Papageno eine Art Obdachloser, der seinen Schlafsack auf dem Rücken mit sich führt und seine Vögel in einer Tiefkühlbox transportiert. Die Königin der Nacht und Sarastro bilden eine Art verkorkstes Ehepaar, das sich um die Tochter Pamina streitet.

Ein Stadtwald in der Videoprojektion von Martin Eidenberger schliesst die Bühne (Michael Levine) nach hinten ab und signalisiert im Verlauf der Jahreszeiten die jeweiligen Befindlichkeiten der Protagonisten. Wenn sich Pamina (Kate Royal) im zweiten Akt das Leben nehmen will, herrscht dickster Winter. Da entzündet der famose Rundfunkchor seine Feuerschalen und stimmt das Motto dieser Inszenierung an: «des Todes düstere Nacht». Doch dann wachen die Toten auf dem Feld plötzlich auf, Pamina und Tamino (Pavol Breslik) betreten den Weisheitstempel – so unvermittelt, wie es die ganze Liebesgeschichte in dieser Produktion ist.

Warum die Berliner Philharmoniker wirklich von der Traditionsstadt Salzburg nach Baden-Baden gegangen sind, wird man in offizieller Lesart wohl nie erfahren. Man habe sich dort nicht mehr zu Hause gefühlt – was immer das heisst. Ausserdem wollte das Eliteorchester ein exklusives Festival für sich und nicht im Salzburger Dauerreigen von Oster-, Pfingst- und Sommerfestspielen nur noch unter «ferner liefen» wiederkehren. Und es wollte auch nicht nur für eine finanzkräftige Elite auftreten. Das ist entschieden ein neuer Ton, der dem Orchester in Baden-Baden wahrscheinlich die meisten Sympathien einbringt. Auftritte von Mitgliedern der Berliner Philharmoniker in Altersheimen sind mehr als eine Geste – sie kämpfen wirklich an allen Fronten für ihre Musik.

Neue Horizonte

Dieser Auftrag steckt auch hinter der Idee, sich bei einem Festival nicht nur als Orchesterverbund in grossen Sinfoniekonzerten und Opern zu präsentieren, sondern auch in seinen vielen kammermusikalischen Formationen vom Duo über das Oktett bis hin zu den zwölf Cellisten. In diesen Gruppen werden die Berliner Philharmoniker ganz Baden-Baden rund um die Uhr unter Musik setzen – im Kasino und im Kurhaus, in Kirchen, Museen und im Theater. Dies zu einem Einheitspreis von 15 Euro. Sozusagen als Gastgeschenk wird im Theater die Salonoper «Cendrillon» von Pauline Viardot gezeigt, die bis zum Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs in Baden-Baden einen berühmten Salon führte und als ehemalige Primadonna selbst Lieder komponierte. Diese Öffnung in die Stadt hinein ist auch für das Baden-Badener Festspielhaus Neuland, es geht neue Partnerschaften ein, unterstützt den kommunikativen Charakter der neuen Osterfestspiele mit einer Gesprächsreihe, in der sich fünf Musiker des Orchesters befragen lassen. Möglicherweise wird Salzburg bald neidisch, trotz Thielemann und der Sächsischen Staatskapelle als Ausgleich für den Verlust der Philharmoniker. Das Modell dieser Osterfestspiele könnte der Beginn einer neuen Tradition sein.