Der Adler darf nicht flügge werden

In den 1930er Jahren vertonten die Komponisten Jacques Ibert und Arthur Honegger gemeinsam ein Versdrama von Edmond Rostand, das sich um den Sohn Napoleons dreht. Die Lausanner Oper bietet Gelegenheit zur lohnenden Wiederbegegnung mit dem lange vergessenen Stück.

Alfred Zimmerlin
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Ohnmächtiger Versuch, sich aufzuschwingen: Carine Séchaye in der Rolle des Prinzen. (Bild: Marc Vanappelghem)

Ohnmächtiger Versuch, sich aufzuschwingen: Carine Séchaye in der Rolle des Prinzen. (Bild: Marc Vanappelghem)

Schwierig, als einziger legitimer Sohn eines Adlers, wie es Napoleon war, durch die Welt zu gehen – knapp zwanzigjährig, im goldenen Käfig von Schönbrunn. Man schreibt das Jahr 1831; es markiert den Höhepunkt der Metternichschen Restauration. Hin und her gerissen ist der junge Mann zwischen dem Traum, als Napoléon II Kaiser von Frankreich zu werden, und dem Erbe habsburgischer Neurosen, denn Marie-Louise von Österreich war seine Mutter. So jedenfalls hat der französische Dramatiker Edmond Rostand in seinem um 1900 entstandenen Stück «L'Aiglon» das Leben des Sohns von Napoleon gestaltet, der schon 1832 in Schönbrunn an Tuberkulose starb. Ein Antiheld, dessen innere Zerrissenheit viel dramatisches Konfliktpotenzial birgt – und der am Ende doch wächst.

Carine Séchaye als Duc de Reichstadt in der Oper L'Aiglon, komponiert von Jacques Ibert und Arthur Honegger. (Bild: Marc Vanappelghem)

Carine Séchaye als Duc de Reichstadt in der Oper L'Aiglon, komponiert von Jacques Ibert und Arthur Honegger. (Bild: Marc Vanappelghem)

Fruchtbare Zusammenarbeit

Der Ausbruch aus dem repressiven Metternich-System scheitert, Freiheit bringt erst der Tod. In schwieriger Zeit, 1936/37, hat Henri Caïn Rostands gereimte Verse von «L'Aiglon» zu einem Opernlibretto verdichtet; Jacques Ibert und Arthur Honegger haben arbeitsteilig daraus ein Musikdrama in fünf Akten geschaffen, das beinahe vergessen ging. Vor gut zehn Jahren hat die Oper von Marseille in der Direktionszeit von Renée Auphan das Werk wieder ausgegraben und in einer Inszenierung von Patrice Caurier und Moshe Leiser gezeigt. Nun ist die ehemalige Direktorin der Lausanner Oper (und des Genfer Grand Théâtre) mit dem Werk nach Lausanne zurückgekehrt und hat in diesem sympathischen Haus als Regisseurin eine Art Remake der Caurier-Leiser-Produktion erarbeitet.

Es ist gut und richtig, das Werk wieder zur Diskussion zu stellen, denn die Musik, welche der Dirigent Jean-Yves Ossonce und das Orchestre de Chambre de Lausanne (OCL) aus dem Orchestergraben erklingen lassen, fasziniert. Die Zusammenarbeit von Ibert und Honegger hat erstaunlich gut funktioniert, nicht zuletzt, weil jeder das tat, was er am besten konnte. So ist – trotz einigen unverkennbaren musikalischen Brüchen – ein packendes, berührendes Stück Musiktheater zu erleben.

Napoleon II (Carine Séchaye, rechts) mit seinem treuen Diener Séraphin Flambeau (Marc Barrard). (Bild: Marc Vanappelghem)

Napoleon II (Carine Séchaye, rechts) mit seinem treuen Diener Séraphin Flambeau (Marc Barrard). (Bild: Marc Vanappelghem)

Ibert schrieb einen nach luftigem Wiener Blätterteiggebäck duftenden ersten Akt, der unverkennbar aber auch einen französischen Tonfall hat – genüsslich kosteten dies Ossonce und das OCL aus. Der Komponist exponierte das Drama mit aller Klarheit. Für den Maskenball im dritten Akt steuerte er einige Walzer von grosser Souplesse bei, und im fünften Akt, wo es um das Sterben des Schwindsüchtigen geht, wird der Klang immer körperloser. Anklänge an Sakralmusik scheinen auf, und es gibt vielleicht auch etwas wohldosierten Kitsch, wie er in der Oper mitunter Platz hat.

Honegger indes zeigte in den beiden hochdramatischen Akten zwei und vier, aber auch im dritten, was für ein grossartiger, immer theatral denkender und zur Sache gehender Opernkomponist er im Grunde war. Wie etwa Metternich den jungen Prinzen am Ende des zweiten Aktes brutal fertigmacht und die Musik dies emotionell vermittelt, ist atemberaubend. Die Vision auf dem ehemaligen Schlachtfeld von Wagram im vierten: verrückt, was für eine Musik Honegger dazu findet. Da sind also Entdeckungen zu machen, und es war bemerkenswert, wie das OCL und sein Dirigent hier die Klänge plastisch formten, emotionell sprechen liessen. Man spürte ein Engagement für die Sache.

Von links nach rechts: Marie Karall (Duchesse de Parme); Carine Séchaye (Duc de Reichstadt); Carole Meyer (Thérèse de Lorget); Sacha Michon (Prokesch-Osten). (Bild: Marc Vanappelghem)

Von links nach rechts: Marie Karall (Duchesse de Parme); Carine Séchaye (Duc de Reichstadt); Carole Meyer (Thérèse de Lorget); Sacha Michon (Prokesch-Osten). (Bild: Marc Vanappelghem)

Die Oper erfordert einiges Personal, im Zentrum stehen indes der junge Prinz (eine Hosenrolle), sein Gegenspieler Fürst Metternich und der ehemalige Grenadier Flambeau, der nun des Prinzen Diener ist. Schon ganz am Anfang wird Metternich als finstere Gestalt inszeniert, und in seinem Monolog, aber auch im Dialog mit dem Prinzen im zweiten Akt konnte der klar und dezidiert auf hohen Plateausohlen auftretende Franco Pomponi in dieser Rolle auch zeigen, dass er dafür Farben hat. An andern Stellen hätte er gestalterisch noch wesentlich weiter gehen können. Flambeau, dargestellt von Marc Barrard, wirkte zu Beginn noch etwas gar behäbig, dann aber lief Barrard zu Hochform auf und fesselte einen restlos. Carine Séchaye konnte einen als Prinz für sich gewinnen; sie gab die vielschichtige Persönlichkeit differenziert, zerbrechlich-zögerlich, dann wieder mit Druck, Überzeugungskraft und vielen gestalterischen Farben.

Karnevalszene. (Bild: Marc Vanappelghem)

Karnevalszene. (Bild: Marc Vanappelghem)

Theaterwirksames Stück

Die Inszenierung zeigt die Handschrift der Theater-Routiniers Caurier und Leiser deutlich, Renée Auphan hat sie indes durchaus persönlich adaptiert. Auch auf der theatralen Ebene wird das Werk mit sauberem Handwerk und einer geschickt zwischen Statik und Dynamik ausbalancierenden Personenregie zur Diskussion gestellt: mit einer grossen Portion Realismus in Kostümen und Bühnenbild, die an den Wiener Vormärz erinnern, einer Prise Operettenhumor, etwas Groteske und leisen Anspielungen an totalitäre Regime der Gegenwart. Im Übrigen hält sich die Regie erstaunlich nah an die Anweisungen der Vorlage, aber sie tut es so, dass man sich von diesem theaterwirksamen Stück auch heute berühren und überzeugen lassen kann. Und die Musik darf sich voll entfalten – zum Genuss des Publikums.

Weitere Vorstellungen: 24., 26. und 28. April.