Düstere Endzeitphantasie

Passend zur weitgehend im Freien spielenden Handlung der Oper wurde Giuseppe Verdis «Attila» im St. Galler Klosterhof dargeboten. Vor dem teilweise etwas matten Klangkolorit des Orchesters enfaltete sich ein gediegenes Sängerensemble.

Jürg Huber
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Zu den heimlichen Freuden der St. Galler Freiluftaufführungen gehören jeweils die Amseln, die pünktlich zur Dämmerung mit ihrem Gesang ins musikalische Geschehen einstimmen. Dieses Jahr, bei der achten Durchführung der Festspiele, gerät ihr Beitrag besonders passend. Denn mit «Attila» steht Giuseppe Verdis einzige Oper auf dem Programm, die – abgesehen von einer kurzen Szene im Zelt – durchwegs im Freien spielt. Der Amselgesang kündet aber auch von einer heilen Welt, die unten auf der Bühne in Brüche gegangen ist. Erzählt Verdis «Attila» vom historischen Einfall der Hunnen in Norditalien, so entwirft Stefano Poda im St. Galler Klosterhof ein überzeitliches Untergangsszenario, das von Missgunst und Rache geprägt ist. Poda, der für Inszenierung, Ausstattung und Licht in Personalunion verantwortlich zeichnet, hat zu diesem Zweck eine mit Leichen übersäte Trümmerlandschaft hinstellen lassen, in der auch das Zifferblatt einer Turmuhr der Kathedrale auszumachen ist.

Das wirkt alles aus einem Guss – aber auf die Dauer auch hermetisch und grau wie der Himmel am Premierenabend. Ohne Kenntnis des Librettos bleibt die verworrene Handlung mangels Übertitelung unergründlich. Zwar bewähren sich der Opern- und Theaterchor St. Gallen, der Theaterchor Winterthur sowie der Prager Philharmonische Chor als klangmächtige Ensembles; die feindlichen Volksmassen, die Poda optisch einander angleicht, haben auf dem riesigen Trümmerfeld jedoch wenig Laufwege und bewegen sich statisch. Was in einem intimen Theaterhaus möglicherweise zur psychologischen Feinzeichnung geführt hätte, verpufft seine Wirkung auf der ausladenden Freiluftbühne. Reichlich Trockeneis hilft darüber hinweg, was bei entsprechender Beleuchtung zu einigen phantastischen Bildern führt, die dem musikalischen Spannungsabfall nach der Pause entgegenwirken.

Auch das Sinfonieorchester St. Gallen, das unter der Bühne spielt, kann sich der grauen Grundstimmung nicht entziehen. Zumindest von der rechten Tribüne aus klangen die aus Lautsprechern hinter der Bühne zugespielten Klänge an der Premiere oft matt. Der auf das italienische Repertoire spezialisierte Dirigent Antonino Fogliani hält das Orchester zu einer geschmeidigen Artikulation an, die den ruhigeren Szenen gut bekommt. Die aufwühlenden, aggressiven Passagen indessen geraten gar weich, was auch mit der Klangregie (Stephan Linde und Christian Scholl) zu tun haben mag, die sich vor dynamischen Extremen scheut und die Solisten in den Vordergrund rückt.

So gehört der Abend vor allem dem Sängerensemble. Alexander Vinogradov in der Titelrolle irritiert zunächst durch extrem weites Vibrato, überzeugt jedoch im weiteren Verlauf besonders in den lyrischen Passagen mit seinem strömenden Bass, der mit Luca Grassis Bariton im grossen Duett von Attila und Ezio schön harmoniert. In den kleineren Rollen des Uldino und des Leone, der seinen effektvollen Auftritt auf dem Balkon zwischen den mächtigen Türmen der Kathedrale hat, bewähren sich Nik Kevin Koch und Matt Boehler. Bruno Ribeiro wirkt mit seinem warmen unforcierten Tenor als Sympathieträger, der im Prolog seine Leute auf den Widerstand gegen die Besatzung einschwören kann. Nicht ganz zur lyrischen Stimme passen will das rabiate Vorgehen des vermeintlich Betrogenen gegen seine Verlobte Odabella. Die weibliche Protagonistin ist der Star des Abends. Schon bei der ersten Begegnung mit dem Hunnenkönig macht Mary Elisabeth Williams darstellerisch wie stimmlich deutlich, dass jenem hier aus der Reihe der Unterworfenen eine Widersacherin erwächst, gegen die er unterliegen wird. Ihr dramatischer Sopran verfügt aber auch über wunderbar zarte Farben, die in der Nachtszene des ersten Aktes betörend mit den Soloinstrumenten des Orchesters verschmelzen. Schliesslich siegt die rächende Kriegerin in ihr. Als es darum geht, wer zuerst zustechen, wer Attila niedermetzeln darf, ist sie zur Stelle. Doch ganz so düster wie im Original möchte Poda seine Erzählung der unappetitlichen Geschichte nicht enden lassen: Nach dem Rachemord mahnen nochmals die engelsgleichen Stimmen aus der Prozession des ersten Aktes, dass auch eine andere Welt möglich wäre.