Traumtheater, Bauchmusik

Die Salzburger Festspiele huldigen den Jubilaren des Jahres. Dabei gleichen sich die Produktionen von Verdis «Falstaff» und der «Meistersinger» Wagners in vielem. Gerade auch in ihren Nachteilen.

Peter Hagmann
Drucken
Unter Stefan Herheims Regie entfalten sich die «Meistersinger» als farbiger, im Innersten aber doch konventioneller Bilderbogen. (Bild: Salzburger Festspiele / Forster)

Unter Stefan Herheims Regie entfalten sich die «Meistersinger» als farbiger, im Innersten aber doch konventioneller Bilderbogen. (Bild: Salzburger Festspiele / Forster)

An dem doppelten Jubiläum kommt niemand vorbei. Deshalb erhält bei den Salzburger Festspielen diesen Sommer Giuseppe Verdi das Wort, und das gleich vier Mal, mit «Falstaff» und «Don Carlo» in neuen Inszenierungen, mit «Giovanna d'Arco» und «Nabucco» in konzertanten Aufführungen. Erstaunt das nicht weiter bei einer Institution, die von Alexander Pereira geleitet wird, so steht der zweimalige Auftritt Richard Wagners – mit den «Meistersingern» in szenischer und «Rienzi» in konzertanter Fassung – ausserhalb des Salzburger «courant normal». «Die Meistersinger» sind bei den Salzburger Festspielen bisher überhaupt nur zwei Mal produziert worden: in den Jahren 1936 bis 1938 und somit aus erkennbaren Gründen.

So kommt es denn, dass sich diesen Sommer an der Salzach der wortgewaltige Hans Sachs und der wohlbeleibte Falstaff begegnen – und nicht nur das: Sie tun es auch unter einem gemeinsamen dramaturgischen Dach. Bei den «Meistersingern von Nürnberg» ist es der Komponist höchstpersönlich, der sich zu nächtlicher Stunde, im Schlafrock und mit der Zipfelmütze des deutschen Michel auf dem Kopf, das Geschehen ausdenkt und sich dabei immer mehr mit der von ihm entworfenen Figur des Hans Sachs identifiziert. Ein Traumspiel auch «Falstaff», wo sich ein bejahrter Sänger, Bewohner des von Verdi eingerichteten Altersheims in Mailand, auf dem Sofa schlummernd an seine goldenen Zeiten erinnert und dabei die Geschichte des Lebemanns, der seiner Umwelt übel mitspielt und dem von ebendieser Umwelt mit gleicher Münze zurückgezahlt wird, noch einmal in allen Einzelheiten durchlebt. Gemeinsam ist den beiden Produktionen indessen noch etwas anderes: ihre Opulenz auf der Ebene des szenischen Designs und ihre Schwäche auf jener der inhaltlichen Aussage.

Macht des Bilds

Nicht nur als ein Sommernachtstraum erscheinen Wagners «Meistersinger» in der Inszenierung von Stefan Herheim, sondern auch als ein Kinderspiel, wie es sich Maurice Ravel für seinen Einakter «L'Enfant et les sortilèges» ausgedacht hat – und wie es der Regisseur Claus Guth in seiner 2002 herausgebrachten Zürcher Inszenierung von Franz Schuberts Oper «Fierrabras» verwirklicht hat. Ganz taufrisch ist die Idee Herheims also nicht, aber ihrer Wirkung kann sie sich gewiss sein, zumal in dem unerhört aufwendigen, unglaublich prachtvollen Bühnenbild, das Heike Scheele für das Salzburger Grosse Festspielhaus entwickelt hat. Man sieht da das geräumige Arbeitszimmer Wagners mit einem Sekretär, Regalen und Kommoden. Zum Vorspiel des ersten Aufzugs zieht der Komponist, erschrocken über die Anwesenheit des neugierigen Festspielpublikums, über die ganze Breite der Bühne einen weissen Vorhang, auf dem sich das Szenenbild in einer Videoprojektion (Martin Kern) rasch vergrössert – und wenn dann der Choral am Anfang des ersten Aufzugs beginnt, steht die von Ernst Raffelsberger aus Zürich einstudierte Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor auf der grün bespannten Schreibfläche des nun übergrossen Sekretärs, hinter sich monumentale Schubladen und eine Riesenschreibfeder.

Ein grandioses Bild. Und nicht weniger üppig jenes zum zweiten Aufzug, in dem sich zwei gewaltige Kommoden gegenüberstehen, eine einfachere für den Schuster Sachs und eine reichverzierte für den Goldschmied Pogner. Im dritten schliesslich scheint die Imagination Wirklichkeit zu werden, er spielt darum eins zu eins in Wagners Arbeitszimmer, während für die Festwiese dann wieder die Kinderperspektive eingerichtet wird, die das von «Heil»-Rufen und Fanfaren geprägte Geschehen bricht. In dieser Anlage ereignet sich nun aber eine wenn auch sauber ausgearbeitete, so doch kreuzbrave, durch und durch konventionelle Inszenierung – kaum zu glauben, dass sie von Stefan Herheim stammen soll. An den Dirndln für die Damen, an den wallenden Umhängen mit Pelzbesatz und den passenden Baretten für die Meistersinger, welche die Kostümbildnerin Gesine Völlm hat schneidern lassen, kann sich erlaben, wer gerne im Theaterlexikon blättert und sich an Aufführungen aus früheren, besseren Tagen erinnert. Dass Hans Sachs mit seinem Backenbart Richard Wagner höchstpersönlich ist und Beckmesser sein Bewunderer, der es dann aber doch nicht schafft und darob schluchzend zusammenbricht, ändert hier wenig.

Klangrausch im Forte

So restaurativ, wie es den Augen erscheint, ist das Stück allerdings nicht, die Ohren wissen davon zu berichten. Vielmehr: Sie wüssten es, stände nicht Daniele Gatti am Pult. Dem italienischen Dirigenten, der schon die Zürcher Produktion der «Meistersinger» von 2012 an die Wand gefahren hat, bleibt die kontrapunktische Faktur des Stücks ebenso verschlossen wie sein geschmeidiges Parlando; er hört in dieser Partitur vorab das rauschhaft Klangsinnliche und stellt es ohne Rücksicht auf Verluste, geradezu autistisch heraus. Herrlich, wie die Wiener Philharmoniker klingen, nur leider auch hier wieder massiv zu laut, bisweilen auch banal, ja grobschlächtig. Den Sängern, in den Hauptpartien im Wesentlichen dieselben wie 2012 in Zürich, geht es nicht gut dabei. Michael Volle gibt einen sorgfältig ausgestalteten Sachs; für seine Ansprache über das Deutsche, die er ganz allein in einem Scheinwerferkegel hält, blieb ihm aber nur mehr die halbe Stimme – kein Wunder angesichts der Übermacht des Instrumentalen. Ähnlich Roberto Saccà, der als lateinisch klingender Stolzing die Kräfte derart dosieren muss, dass seine Partie arg an Profil verliert; umso gelungener dafür sein Auftritt auf der Festwiese, bei dem er auf die Reserven zurückgreifen konnte. Markus Werba ist ein agiler, scharf gezeichneter Beckmesser, Georg Zeppenfeld ein nobler Pogner, im Übrigen dominiert herzhafter Durchschnitt.

Für das Zeremoniell auf der Festwiese nehmen die Meistersinger auf umgestülpten Zinnbechern Platz, die auf die Dimensionen eines Putzkessels vergrössert sind. Exakt auf solche Putzkessel lassen sich die Protagonisten auf dem Höhepunkt im dritten Akt von «Falstaff» nieder – ist sie nicht wunderbar, die neue Salzburger Dramaturgie? Sie schliesst ein, dass es bei Verdis Alterswerk zu vergleichbaren Missverständnissen kommt wie bei den «Meistersingern». Auch hier ist mit Zubin Mehta ein Dirigent am Werk, der den deftigen Zugriff liebt – und so fährt einem schon der Eröffnungsakkord mit röhrendem Blech und einem gellenden Piccolo scharf ins Ohr. Das kunstvoll gedrechselte Parlando lässt er beiläufig dahinplätschern, gestaltet wird da wenig. Dafür drehen die Wiener Philharmoniker immer wieder mächtig auf – bis hin zu dem raffiniert gebauten Finale, das von den Sängern förmlich herausgeschrien wird. Mehta mag zeigen wollen, dass in «Falstaff» manches weniger amüsant ist, als es wirkt; eher ist anzunehmen, dass hier wieder einmal das Klischee vom Humm-Tata der italienischen Oper Platz greift.

Anders als bei den «Meistersingern» kommt es aber nicht zu ungleichem Wettbewerb zwischen dem Instrumentalen und dem Vokalen. Das hervorragend besetzte und bestens aufeinander abgestimmte Ensemble steht für italienische Gesangskunst, und das schliesst die nötige Durchschlagskraft ein. Als Falstaff ist Ambrogio Maestri nicht nur eine stattliche Erscheinung, er verfügt auch über einen gewaltigen Bariton und zugleich über so viel Geschmeidigkeit im Timbre, dass ihm auch das Bewegliche der Partie keine Mühe bereitet. Massimo Cavalletti (Ford) steht ihm, was Ausstrahlung und Präsenz betrifft, in nichts nach, während Luca Casali für seine Auftritte als Dottor Cajus die nötige Schärfe in seinen Tenor zu bringen vermag. Aus dem Quartett der Damen sticht Elisabeth Kulman als Mrs. Quickly hervor; eine derart gut sitzende, strahlende Tiefe und einen derart blendend kontrollierten Wechsel zwischen den Registern bringt nicht jede Sängerin ein.

Nur lustig

Auf der Bühne wäre das Potenzial da – und Damiano Michieletto weiss es in der herrlichen Ausstattung von Paolo Fantin (Bühne), Carla Teti (Kostüme) und Alessandro Carletti (Licht) voll zu nutzen. Langsam verschwindet im Kleinen Festspielhaus das auf einen Vorhang projizierte Bild, welches die von Verdi begründete «Casa di riposo per musicisti» in Mailand von aussen zeigt, der Blick gleitet ins grossbürgerliche Innere dieser speziellen Seniorenresidenz, und bald stellt sich die liebevoll ironische Atmosphäre ein, die Daniel Schmid in seinem unvergesslichen Film «Il Bacio di Tosca» eingefangen hat – zumal dann, wenn der ebenso selbstbezogene wie gemütliche Protagonist seinen Schrankkoffer öffnet und ihm das klassische Falstaff-Kostüm von ehedem entnimmt. Eine grosse Statisterie bringt Leben in den würdigen Salon und den dahinter liegenden Speisesaal, zusammen mit den beiden Dienern nimmt das Oktett der Darsteller das wüste Spiel um den Lebemann mit seinem Bauch auf – und schon stellt sich das Vergnügen ein, das «Falstaff» auslösen kann. Dass Verdis letzte Oper bloss vordergründig eine Komödie ist, dass sich in «Falstaff» vielmehr auch eine abgrundtiefe Melancholie, ja eine Spur Zynismus äussert, das wird freilich in keinem Augenblick spürbar. Virtuos bedient Michielettos Inszenierung die Erwartungshaltung des Publikums. Interpretation ist etwas anderes.