Kulturen prallen aufeinander

Enthusiastischen Applaus gab es am Premierenabend von Léo Delibes' «Lakmé» in der Opéra de Lausanne für die Sopranistin Julia Bauer in der Hauptrolle, aber auch für eine Inszenierung, die im Werk Aspekte aufzeigte, die uns noch heute etwas angehen.

Alfred Zimmerlin
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Melodramatisch ist die Geschichte einer unmöglichen Liebe zwischen einem englischen Soldaten und einer als Halbgöttin verehrten indischen Brahmanentochter: Die Oper «Lakmé» von Léo Delibes, welche vor hundertdreissig Jahren an der Opéra Comique in Paris Premiere hatte, wirkt auf den ersten Blick rührselig und ganz in der Tradition der Exotik-Mode des 19. Jahrhunderts. Wie nah wäre da heute Bollywood. Doch so, wie Lilo Baur das Werk jetzt zur Saisoneröffnung an der Opéra de Lausanne in einer Koproduktion mit der Opéra Comique inszeniert, scheinen plötzlich auch Wahrheiten auf, die berühren und einem zu denken geben. Denn die Regisseurin und ihr Team zeigen in «Lakmé» auch die Brisanz, die das Aufeinandertreffen zweier grundverschiedener Kulturen hat.

Die Logik der Attraktion

Sie zeigen sie ohne Aufdringlichkeit, und doch wirkt es im ersten Akt wie ein Schock, wenn eine Gruppe von Engländerinnen und Engländern in den heiligen Bezirk eines Brahmanenpriesters eindringt, naiv, entwürdigend und egoistisch. Man fühlt sich unweigerlich an das Verhalten des heutigen Massentourismus fremden Kulturen gegenüber erinnert. Dies, ohne dass die Geschichte in die heutige Zeit transformiert würde; die Kostüme von Hanna Sjödin holen sie zwar etwas näher heran, sie lassen an die Boom-Zeit der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts denken. Und die exzellenten Bühnenbilder von Caroline Ginet abstrahieren, aber spielerisch und mit starker Wirkung.

Dass sich der Soldat Gérald zur Brahmanentochter Lakmé hingezogen fühlt, hat Logik, ist er doch der Einzige der Engländergruppe, der zunächst Faszination, dann aber auch eine Art respektvollen ethnologischen Forscherdrang der fremden Kultur gegenüber entwickelt. Lakmé wiederum merkt, dass auch ihr das Fremde eine neue, leidenschaftliche Erfahrung bringt. Ihr Opfertod am Schluss, um Gérald in sein Leben zurückzuführen, wirkt aus ihrer Religion begründet und keineswegs verzweifelt.

All diese Inhalte vermittelt Lilo Baur mit einer subtilen Personenführung. Zahlreiche Details verdeutlichen latente Spannungen, wenn etwa die englischen Ladys den Tempeltanz (Choreografie: Olia Lydaki) mit einem despektierlichen Schulterzucken kommentieren. Eindrücklich ist, wie Baur im zweiten Akt die Massenszenen inszeniert, den Chor ganz gezielt in Slow Motion oder normalem Tempo sich bewegen lässt oder ihn in einem «freeze» gleichsam aus der Zeit nimmt.

Und eindrücklich, wie es ihr gelingt, während der offensichtlichen Längen von Delibes eklektischer Musik durch kleinste Gesten oder eine Ortsveränderung neue Erwartungen zu wecken und am Stück zu vergolden, was nur silbern ist. Dafür ist aber auch eine exzellente Besetzung der Hauptrollen verantwortlich: Die deutsche Sopranistin Julia Bauer ist eine Lakmé, die einen in jedem Moment bezaubert – dank ihrem virtuosen Spiel und noch virtuoseren Gesang. Unglaublich, wie ihr Pianissimo in höchster Höhe einem mitten ins Herz geht, wie sie ihren Koloraturen emotionellen Sinn geben kann. Nicht nur ihre Paradestücke wie das Blumenduett mit Mallika im ersten Akt (ausgezeichnet darin auch Elodie Méchain) und die noch berühmtere Glöckchen-Arie im zweiten wurden zu Höhepunkten des Premierenabends.

Starke Kollektivleistungen

Gérald war mit Christophe Berry mit einem hell und leicht klingenden Tenor voller Farben besetzt, der einen nicht minder faszinieren konnte: ein Protagonistenpaar von starker Ausdruckskraft. Markig, mit kräftigem, baritonal gefärbtem Bass überzeugte auch Daniel Golossov als Brahmane Nilakantha, und die Nebenrollen waren gut bis ausgezeichnet besetzt. Eine wichtige Funktion hat der von Véronique Carrot geleitete vortreffliche Chor der Opéra de Lausanne, und der Dirigent Miquel Ortega hat gerade für die sensuelle Seite von Léo Delibes' Musik ein feines Gespür. Er verstand es, mit dem Orchestre de Chambre de Lausanne die Sängerinnen und Sänger zu inspirieren, durch den Abend zu tragen und die Spannung mit feinen Differenzierungen in keinem Moment abflauen zu lassen.

Vorstellungen am 9., 11. und 13. Oktober (www.opera-lausanne.ch).