Gefühle – wahre und zerbrochene

Nach Wagners «Lohengrin» im letzten Dezember hat sich die Mailänder Scala nun dem anderen Jubilar dieser Tage zugewandt. Giuseppe Verdis «Traviata» gerät zu einem aufregenden Theaterabend.

Peter Hagmann
Drucken
Farbige Kontraste: Mara Zampieri als Dienerin und Diana Damrau als Kurtisane. (Bild: Mara Zampieri e Diana Damrau)

Farbige Kontraste: Mara Zampieri als Dienerin und Diana Damrau als Kurtisane. (Bild: Mara Zampieri e Diana Damrau)

Die Hauptrolle war Mara Zampieri anvertraut – und die berühmte, inzwischen 62-jährige Sopranistin bewältigte ihre Aufgabe grandios. Nicht die Hauptrolle in «La Traviata», die war anderweitig in allerbesten Händen. Wohl aber jene in der Inszenierung von Giuseppe Verdis Oper, welche die Mailänder Scala zu der traditionellen, auch dieses Jahr wieder herrlich aufgeregten Saisoneröffnung am Namenstag des Stadtheiligen Ambrosius zur Premiere gebracht hat. Annina, die Dienerin der Edelprostituierten Violetta Valéry, hat einige wenige Sätze zu singen und einige wenige Handgriffe zu tun (beides ist Mara Zampieri tadellos gelungen), im Übrigen gehört sie zum tableau vivant der Ausstattung. Hier ist das anders.

Regietheater vom Feinsten

In der vorbildlich durchgestalteten Inszenierung von Dmitri Tcherniakow verkörpert sie das Geschehen, so wie der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano während der obligaten Nationalhymne (und nach einer Gedenkminute für Nelson Mandela) die von den Politikern mit Fäusten traktierte Republik verkörperte. In ihrem Gesicht spiegelt sich das Drama – zum Beispiel am Ende, wo Violetta reglos auf einem Stuhl sitzend ihr Leben aushaucht, während der Zuschauer in den entsetzten Zügen der Dienerin das Unfassbare lesen kann. Als eine Darstellerin von unglaublicher Bühnenpräsenz hat das Mara Zampieri auf die Spitze getrieben – aber ohne jede Übertreibung, ohne einen Anflug von Kitsch. Fast am besten dort, wo sie einfach nur dasteht, etwa im ersten Akt, wo ihre rote, steil aufstehende Frisur und ihr oranges Kostüm eine scharfe farbliche Dissonanz bilden und die Hohlheit der von Violetta ausgerichteten Party unterstreichen. Regietheater ist das, und zwar vom Feinsten. Dafür ist dem Regisseur am Ende mit einem Buhkonzert aus den Rängen die Quittung überreicht worden.

Allerdings ist es nicht das Regietheater von gestern, gegen das die Gestrigen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ihre Stimme erheben. Die vom Regisseur als seinem eigenen Bühnenbildner entworfenen Schauplätze entsprechen den Vorgaben der Partitur, und sie sind so erlesen, wie es sich für eine Produktion zu Sant'Ambrogio gehört. Spiegeln sie die Entstehungszeit des Werks, so verweisen die Kostüme auf eine nicht näher bestimmte Gegenwart – was darum stimmig ist, weil Verdi mit seinem Stück seine eigene Zeit im Blick hatte. So ereignet sich das Fest von Violetta Valéry in einem klassizistischen Salon in Grau, in dem sich Gäste tummeln, die geradewegs aus dem Zuschauerraum auf die Bühne gekommen scheinen. Alles ist da auf die äussere, die gesellschaftliche Wirkung angelegt, für das Wahre einer Beziehung bleibt kein Raum. Das deutet das «Brindisi» von Alfredo an, das Piotr Beczala ordentlich, aber ohne den hier notwendigen Zuschuss an Ausstrahlung absolviert. Und das unterstreicht später das «Sempre libera» von Violetta, bei dem Diana Damrau noch etwas Anlaufschwierigkeiten erkennen lässt.

Schon dichter wird das Geschehen in dem üppig ausgestatteten, ganz in Braun- und Ockertönen gehaltenen Landhaus des zweiten Akts. Sozusagen über Nacht ist aus Violetta eine andere geworden, das sieht man. Zwei Liebende fliegen da durch ihr Glück, Alfredo schafft pralles Gemüse heran, Violetta hantiert mit dem Wallholz, fehlen nur noch Hund und Katze. Doch auch hier ist der Boden brüchig, das lässt Tcherniakow subtil aufscheinen. Offenkundig wird es, wenn Giorgio Germont mit der ganzen Autorität des Vaters auftritt und die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung, die Trennung von Violetta und Alfredo sowie die Rückkehr des Sohns in den Schoss der Familie verlangt. Željko Lučič bringt seine Forderungen mit imposanter Stimme, in der Ausgestaltung aber einförmig vor; ein Ruggero Raimondi ist er nicht – wie man sich überhaupt fragen kann, wo die grossen italienischen Sänger sind (Andrea Mastroni macht später als Dottor Grenvil allerdings ausgezeichnete Figur). Die Wirkung ist gleichwohl erschütternd. Da liegt es, das Idyll: in Scherben.

Die Kunst als das Wahre

So kommt es denn zum Eklat in dem in Rosatönen gehaltenen Salon von Flora Bervoix (Giuseppina Piunti), wo Alfredo vor der wiederum sehr mondänen Gesellschaft seiner Enttäuschung über die vermeintlich gebrochene Liebe Luft schafft und Violetta grausam demütigt. Piotr Beczala läuft hier zu grosser Form auf – und doch bleibt ein deutlicher Rest offen. Anders als bei Diana Damrau, die schon in diesem Bild unterwegs ist zum Finale, das einem dann förmlich den Hals zuschnürt.

Das Ende spielt in ihrem von den Gläubigern leer geräumten Salon; geblieben sind ihr der grosse Spiegel, eine unbezogene Daunendecke und ein einsamer Stuhl – vor allem aber: die Medikamente, über die sie sich mit hartem Wasser hinwegtröstet. Welche Krankheit hier zum Tod führt, ist egal, es könnte auch Aids sein. Alfredo jedenfalls, über die Hintergründe aufgeklärt und zur Geliebten zurückgekehrt, wagt nicht, seine Violetta anzufassen; er ist ein Zauderer, unreif und unfähig mit der vom Vater verdrehten Wirklichkeit umzugehen – darüber kann in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakow nachgedacht werden.

So stirbt Violetta allein vor den Augen ihrer Dienerin. Was Diana Damrau aus dem dritten Akt macht, ist schlicht eine Sensation. Und nicht weniger überzeugt die Art und Weise, in der sie Daniele Gatti am Pult des Scala-Orchesters stützt: nirgends zu laut, vielmehr diskret, aber farbenreich. Stimmlich kommt die Sopranistin aus Deutschland ganz aus sich heraus, und in der Darstellung findet sie zu einer Intensität ohnegleichen. Wie wild schlägt sie mit ihren Fäusten auf das Weichei von Alfredo ein, riesig spreizt sie die Fallhöhe zwischen Zukunftshoffnung und Verzweiflung auf – das ist äusserst berührend.

Und vielleicht ist es jene Schweinerei, die ein stimmkräftiger Barbesucher in einer Seitengasse neben der Scala schon vor Beginn der Aufführung als Sakrileg gebrandmarkt hat. Alles ist hier Kunst, wie die Brechtschen Schrifttafeln, die der Regisseur einblenden lässt: gemacht, gestaltet und darin wahrhaftig. Das musikalische Theater ist definitiv an der Scala angekommen.