Märchen mit überraschendem Ausgang

Auch in der «Walküre» behält der Genfer «Ring» seine Ambivalenzen. Kammermusikalisches Musizieren verbindet sich mit scheinbar naivem Erzählen der Geschichte. Im dritten Aufzug kommt es jedoch zum Umschlag.

Peter Hagmann
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Zwei ungleich gleiche Brüder: John Lundgren als Alberich und Tómas Tómasson als Wotan. (Bild: Carole Parodi)

Zwei ungleich gleiche Brüder: John Lundgren als Alberich und Tómas Tómasson als Wotan. (Bild: Carole Parodi)

Die Welt wird da nicht aus den Angeln gehoben, schon gar nicht die Rezeptionsgeschichte von Richard Wagners «Ring des Nibelungen». In ihrer Inszenierung der Tetralogie, die sie für das Genfer Grand Théâtre entwickelt haben, gehen der Regisseur Dieter Dorn und der Ausstatter Jürgen Rose von einer Position ante quem aus; sie versuchen, sich der Überlagerungen, die das in diesem Fall besonders dichte Nachleben dem Werk beigefügt hat, zu entledigen, gleichsam an den Ausgangspunkt der Geschichte zurückzukehren. Was finden sie dort? In «Siegfried» ist es das Märchen, wonach wir uns alle sehnen, auch wenn wir es nicht zugeben mögen. Nach Massen wird da im ersten Aufzug auf den Amboss geschlagen, bringt der Blasebalg die Flammen zum Lodern, wird das Schwert behämmert. Das verwilderte Geäst, das Mimes Behausung umgibt, stammt nicht von Bäumen, es sind vielmehr die Krakenarme des Riesenwurms Fafner – der im zweiten Aufzug in Form eines gigantischen goldenen Kopfs mit einer Stimme aus der Flüstertüte erscheint. Und auch da, wie schon bei «Rheingold» und «Walküre», ist es Wotan, der das Geschehen zu inszenieren glaubt, wo die Fäden doch in den Händen der jeweils zu Beginn der Akte über die Bühne ziehenden Nornen liegen.

Der Waldvogel als Hauptrolle

Etwas naiv – vielleicht gar bewusst restaurativ wirkt diese Einkleidung. Sie bildet den belebten Hintergrund für eine Reihe mehr oder weniger fataler Begegnungen. Das Fragespiel, zu dem der Wanderer Wotan den von Anbeginn an verzweifelten Zwerg Mime zwingt, gerät ausgesprochen spannend, weil Tom Fox, der schwache Wotan der «Walküre», das Feld geräumt hat und ersetzt worden ist durch Tómas Tómasson, dessen Diktion auch nicht gerade vorbildlich ist, der aber über ein kraftvoll viriles Timbre verfügt. Andreas Conrad dagegen ist schon bekannt aus dem «Rheingold»; er ist ein Mime, der dem Schulbuch entstammt – mit einer hellen, scharf zeichnenden Stimme und einer Körpersprache von zappeliger Nervosität.

Seine Intensität erhält das Rätselspiel aber weniger durch die Sänger als durch das Orchester. Auch im «Siegfried» setzt der Dirigent Ingo Metzmacher geradezu radikal auf kammermusikalische Diktion, auf kompromisslose Zurückhaltung im Instrumentalen. Indessen lässt die musikalische Seite der Produktion darob weder Energie noch Plastizität vermissen. Denn das Orchestre de la Suisse Romande bringt hier, ganz anders als bei seinem Zürcher Gastspiel vor einigen Monaten, wieder seine ganze Farbenpracht ins Spiel. Und da ausgesprochen deutlich artikuliert wird, erhält der Kontrast zwischen dem Hecheln Mimes und den ruhig sequenzierenden Bögen des Wanderers ausgeprägtes Profil.

Zwischen den mittlerweile bedrohlich bewegten Krakenarmen des in seiner Höhle liegenden und besitzenden Fafner kommt es im zweiten Aufzug zur Begegnung zwischen zwei gleichen und doch ungleichen Brüdern. In ihren wallenden Regenmänteln sind Wotan und Alberich kaum voneinander zu unterscheiden, und auch stimmlich erscheint der Schwarzalbe fast als Alter Ego des Lichtalben, denn John Lundgren, auch er bekannt aus dem «Rheingold», bringt einen ähnlich opulenten Bariton ein wie sein Gegenspieler. Blass gerät dagegen die Begegnung zwischen Fafner und dem stürmischen Siegfried; Steven Humes hat nicht die nötige Schwärze für den kurzen Auftritt des Riesenwurms, und zudem wird die Empathie, mit der Siegfried seinem Opfer begegnet, szenisch nicht ausreichend deutlich. Eine Überraschung erster Güte dagegen der Waldvogel von Regula Mühlemann. Glockenrein, hell und leuchtend das Timbre der jungen Sopranistin aus Luzern, unprätentiös agil ihre szenische Ausstrahlung – da ist jemand im Kommen, keine Frage.

Nach dem Unterbruch

Im dritten Aufzug wechselt das Bild. Bleibt die Bühne leer bis auf eine Reihe grossformatiger Wände, die das Geschehen einrahmen, und natürlich bis auf den stilisierten Felsen der schlafenden Brünnhilde. Da sind die Figuren ganz auf sich selbst gestellt und kommt das psychologische Gespür ins Spiel, mit dem Wagner gearbeitet hat. Und findet die Inszenierung von Dieter Dorn zu ihrem Eigentlichen. Es liegt in der Ausformung der Figuren – und dass sich diese Ausformung jenseits der märchenhaften Dekoration entfaltet, unterstreicht den mit Mathilde Wesendonck zusammenhängenden Unterbruch in der Entstehungsgeschichte der Tetralogie. Auch aus dem Graben ist das zu hören; im dritten Aufzug legt das Orchester deutlich zu.

Für John Daszak ist das nicht nur von Vorteil. Der junge Brite gibt einen ungewöhnlich lyrischen, fast liedhaften Siegfried – wenn die Diktion noch etwas besser wäre, verstünde man fast jedes Wort. Das passt ausgezeichnet zu dem Knaben, der gegen den Ziehvater aufbegehrt, zu dem Jüngling, der neugierig in die Welt zieht, zu dem jungen Mann, der vor seiner ersten Frau zu Tode erschrickt – und zum kammermusikalischen Ansatz Ingo Metzmachers: Da treten ganz neue Seiten der Partitur ins Licht. Lässt das Orchester jedoch seine Muskeln spielen, gerät der Sänger rasch ins Forcieren und verliert seine Stimme ihre Besonderheit. So glaubt man denn nicht wirklich, dass es mit Wotans Herrschaft zu Ende sei, denn Tómas Tómasson hat bis zum Zerbrechen des Speers die stimmliche Oberhand. Auch gegenüber Erda (Maria Radner) ist dieser Wanderer von ungebrochenem Selbstbewusstsein.

Seinen Höhepunkt erreicht der Abend in seinem letzten Bild, wo Petra Lang frisch und ausgeruht als Brünnhilde die Szene für sich einnimmt. Dass Siegfried mit seinem langen Schwert umständlich am Schutzpanzer der Schlafenden herumnestelt und dann erschrocken feststellt, dass er eine Frau entblösst hat, das wirkt in der unverstellt naturalistischen Setzung fast kabarettistisch – woher weiss der arme Kerl überhaupt, was eine Frau ist? Wie Petra Lang dann aber ihre Stimme erhebt und wie sie den Weg der Brünnhilde von der Göttin zum Menschenwesen nachzeichnet, ist ebenso berührend wie die Scheu, die sie in der unerwarteten Konfrontation mit dem sie begehrenden Mann an den Tag legt. Immer neue Ausreden erfindet sie, um sich Siegfried vom Leib zu halten, und selbst beim Schlussakkord, wenn sich die beiden in die Arme fallen, kommt es nicht zum Kuss, birgt sie vielmehr ganz rasch ihren Kopf an der Brust des Mannes. Wie das wohl wird – in der «Götterdämmerung»?