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Oper
Schneewittchen als Familientherapie

Achim Freyer hat die Schneewittchen-Oper von Heinz Holliger als psychoanalytisch aufschlussreiches Kammerspiel am Theater Basel neu inszeniert - dirigiert von Holliger selbst.

Von Frieder Reininghaus | 21.02.2014
    Lange sind wir Schneewittchen nicht begegnet. Nicht dem Märchen der Kindertage, nicht der Märchenoper von Heinz Holliger. Der dirigierte die 1998 in Zürich zur Uraufführung gebrachte Partitur nun selbst - in Basel. Hörbar so, wie seine subtile Tonkunst interpretiert gehört: zunächst zaghaft zart, dann in zunehmend kräftiger Entfaltung der vielen Schattierungen, die den großen Bogen vom ersten Rückblick der königlichen Patchwork-Familie zum zweiten spannen. Es ist Musik, die sich aus den Erfahrungsschätzen der musikalischen Moderne zusammenrottete und inzwischen wie ein Märchen aus uralten Zeiten zelebriert sein will. Insgesamt eine zeitklangfarbene, zuletzt ein wenig zähe Komposition.
    Die Handlung mutet so vertraut und doch so fremd an. Holliger komponierte ein ums Jahr 1900 entstandenes Dramolett Robert Walsers. Dieser Meta-Text kommentiert die all- und altbekannte Mär von der Prinzessin, die einem von der eitlen Stiefmutter angestifteten Mordanschlag zum Opfer fällt, aber mit Zeitverzögerung auf wundersame Weise überlebt. Die Geschichte wird von den Füßen auf den Kopf gestellt, wird Familienanamnese in bürgerlich gedachtem Milieu. Bei diesem Diskurs fehlen die Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen so wenig wie Selbstbezichtigungen und Beschwichtigungsversuche. Zu lernen ist, wie wichtig gerade auch auf dieser Ebene die Definitionshoheit ist.
    Leise rieselt der Schnee. Schon auf den Treppen des Zuschauerraums nehmen achimfreyersche Figuren in Empfang - zirzensische, allegorische und kunstgeschichtsreflexive Figuren. Ihre Schwestern und Brüder bevölkern die bunte Bühne, ständig wuselnd und hantierend, geschäftig wuschelnd und mit Bildbedeutungsschwere hausierend. Vielfach verschlingt und überschneidet sich die Lineatur in der Höhe des auch noch videomedial überformten Raums. Den Augen wird ein fortdauerndes (Über-)Angebot offeriert. Es ist, als sollten sich die Köpfe gar nicht einlassen auf die Ungeheuerlichkeit der erörterten Geschichte.
    Schneewittchen wurde gedoppelt, wie dies auf dem deutschen Theater des vergangenen Jahrhunderts streckenweise üblich, inzwischen aber zum alten Hut wurde. Beide Schneewittwen tragen Ganzkopfmasken wie Mondfahrer - Anu Komsi singt dabei in Ausführlichkeit die sperrige, textintensive und immer wieder auch lyrische filigrane Partie. Schön und scharf auch Esther Lee in prägnanter Kürze als Alter Ego. Maria Riccarda Wesseling, die garstige Stiefmutter, fährt zu dreifacher Körperhöhe empor, als wäre sie die Königin der Nacht - und nicht enden will ihr rotes Kleid. Der nervöse Prinz Mark Milhofer im Pierrot-Kostüm raucht so elegant wie er den Tenorpart zum Quintett der guten Stimmen beisteuert. Die sieben Zwerge erscheinen auf unterschiedliche Weise "vertiert" - durch Kostümierung dem Hasen angenähert, beferkelt, gebärt und verschwant. Das einvernehmliche Leben mit den emsigen kleinen Bergarbeitern bleibt Wunschtraum der an den Folgen einer Ökoapfelvergiftung laborierenden Protagonistin: "Wär‘ ich bei meinen Zwerglein doch! Da hätt‘ ich Ruh - und ihr vor mir".
    Auch manche Nebenschauplätze erhielten opulente Dekorationselemente: Links auf der Vorderbühne streicht sich ein Violin-Engel durchs goldene Haar, rechts sitzt der Ziehharmonikamann auf dem Boden - keiner will ihn hören, keiner sieht in an, den wunderlichen Alten. Es gibt ja sonst auch mehr als genug zu sehen. Es ist, als wolle das Theater durchs optische Überangebot und ständige Umtriebigkeit gegen seine Angst, es sei unnötig und könne weggespart werden, anrennen. Heftiges Schneetreiben.